Heft 863, April 2021

Notstand und Verschwörung

Zum Ausverkauf des Querdenkens von Christoph Türcke

Zum Ausverkauf des Querdenkens

Seuchen sind uralt. Und Streik ist als soziales Kampfmittel wohlbekannt. Aber letztes Jahr geschah im Seuchenfall etwas, was, gewissermaßen im Handstreich, sämtliche Arbeiterstreiks des Industriezeitalters weit überbot und sie zugleich umstülpte. Unter dem Namen Lockdown vollzog sich nämlich nichts geringeres als ein weltweiter Generalstreik von oben. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Der Generalstreik der Arbeiterklasse sollte die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aushebeln. Der Lockdown findet statt, um sie stabil zu halten.

Als die Vertuschung des neuen Corona-Virus nicht mehr half, wurde zunächst Wuhan und alsbald ganz China stillgelegt. Innerhalb weniger Wochen folgten das übrige Asien und alle anderen Kontinente. Generalstreik von oben geht ungleich leichter als ein proletarischer. Es genügen ein paar Dekrete und das Polizei- oder Militäraufgebot zu ihrer Überwachung. Und Regierungen haben eine ungleich üppigere Streikkasse als Arbeiterbewegungen. Sie können milliardenschwere Kredite aufnehmen. Zwar nicht alle gleich hohe. Dennoch waren, mit wenigen Ausnahmen, die Stilllegungsmaßnahmen einander weltweit verblüffend ähnlich. Die Regierungen begriffen sehr schnell, dass das Virus sie nicht minder bedroht als die Bevölkerungsmehrheit. Selbst Regierungschefs können auf der Intensivstation landen.

Als Xi Jinping und Boris Johnson auf Lockdown umschwenkten (der eine von der Vertuschung, der andere vom Konzept der »Herdenimmunität«), da bekehrten sie sich nicht von »utilitaristischen Strategien (Funktionsfähigkeit des Kollektivs)« zu »kantianischen (Würde und Wohlergehen von Individuen)«, wie John Schellnhuber in der FAZ mutmaßte. Sie sorgten sich um ihre Haut und um ihr Image. Die Bevölkerung profitierte davon und gewann den Eindruck: Die Regierungen sind genauso in Not wie wir. Diese gemeinsame Notstandserfahrung sorgte dafür, dass der Lockdown weltweit nahezu klaglos hingenommen wurde. Anfangs zumindest.

Aber war nicht genau das der Regierungstrick? Grippewellen gibt es jedes Jahr. Und Covid-19 ist ein Grippevirus. Ein heftigeres zwar als die anderen; aber rechtfertigt es die Ausrufung des Notstands mit massiven Einschränkungen elementarer demokratischer Rechte auf Bewegungs-, Reise- und Versammlungsfreiheit, auf Bildung, Gewerbe- und Berufsausübung? Notstand ist kein objektiver Tatbestand, sondern das, was die maßgebliche politische Macht dafür hält: Ermessenssache. Wenn das alte Rom sich in einem existenzbedrohenden Krieg wähnte, traten der von den Bürgern gewählte Senat und die vom Senat gewählten Konsuln ihre Kompetenzen für maximal ein halbes Jahr einem Diktator ab, der als Oberbefehlshaber des Heers und Retter des Gemeinwesens unbeschränkt handlungsfähig sein sollte. Das war eine der ersten Notstandsregelungen. Solange sie für alle Beteiligten die Autorität unverbrüchlichen Rechts hatte, funktionierte sie. Der Diktator gab sein Amt fristgerecht zurück. Die Versuchung, es zu behalten, regte sich erst, als dieses Recht seine Autorität verlor.

Das alte Rom war lediglich ansatzweise eine Demokratie – und hat doch schon eines ihrer bis heute unbewältigten Grundprobleme vorexerziert: Gefahrensituationen, die schnelleres und ausgedehnteres Regierungshandeln verlangen, als es der verfassungsgemäße parlamentarische Weg erlaubt; Gefahrensituationen, die ohne Eingriff in Bürgerrechte nicht zu bewältigen und von Recht und Gesetz womöglich gar nicht vorgesehen sind. Wenn aber solche Szenarien nicht unrealistisch sind: Kommt man dann umhin, der Regierung im Voraus Sondervollmachten einzuräumen? Man mag deren Umfang und Zeitdauer rechtlich klar regeln. Dennoch setzt man damit Sonderrechte zur kurzfristigen Suspendierung demokratischer Rechte in die Welt. Wenn es aber bei der kurzen Frist nicht bleibt; wenn eine mit Sondervollmachten ausgestattete Regierung Mittel und Wege findet, um diese Vollmachten langfristig zu behalten? Dann hat die Demokratie den Rechtsweg zu ihrer eigenen Entmachtung eingeschlagen.

Nachdem 1933 ein Ermächtigungsgesetz die Nazis befugt hatte, am Parlament vorbeizuregieren und auf einen gigantischen Krieg samt Vernichtung beträchtlicher Teile der eigenen Bevölkerung hinzusteuern; nachdem die Bundesrepublik von Grund auf neu und demokratisch anfangen wollte, gestützt auf ein Grundgesetz, das die Wiederholung dieser Ungeheuerlichkeiten schon im Ansatz vereiteln sollte; nachdem in der wiederaufgebauten Armee (Bundeswehr), in der bald wieder florierenden Wirtschaft und im Parlament gleichwohl viele Parteigänger des NS-Regimes eine zweite Karriere machten – da schlugen die Wellen hoch, als 1966 die erste große Koalition von CDU und SPD erneut Notstandsgesetze ins Parlament einbrachte und sie 1968 gegen die lediglich aus der kleinen FDP bestehende Opposition durchsetzte. Das war die Stunde der außerparlamentarischen Opposition, der »Studentenbewegung« und ihrer geistigen Väter Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse.

Letztere hatten sich Anfang der 1930er Jahre im Frankfurter Institut für Sozialforschung zusammengefunden: zur parteiunabhängigen Analyse der Weltwirtschaftskrise und ihrer Auswirkungen auf Beruf und Familie, Wissenschaft und Kultur. Das geschah von der Marx’schen Krisentheorie aus, aber mit ständigem Rückgriff auf bürgerliche Köpfe wie Kant, Schopenhauer, Nietzsche oder Freud, die im Sowjetmarxismus als reaktionär verfemt waren. Solch dialektisches Querdenken, entschieden kapitalismuskritisch und dennoch von unerhörter kultureller Offenheit und Weite, nicht nur quer zu bürgerlich und marxistisch, konservativ und progressiv, sondern auch zu Idealismus und Materialismus, Metaphysik und Positivismus, Theismus und Atheismus: Das faszinierte die Studentengeneration, die sich in der bleiernen Restauration der 1960er Jahre mit erneuter Notstandsgesetzgebung konfrontiert sah und darin die schleichende Wiederkehr des Ermächtigungsgesetzes von 1933 befürchtete.

Horkheimer und Adorno teilten ihre Befürchtungen. Die Einschränkung von Grundrechten, etwa »zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen«, wie es die Neufassung von Artikel 11, Abs. 2 des Grundgesetzes vorsah, fanden sie inakzeptabel; »die Deutschen«, so Horkheimer, »haben nach den unvorstellbaren Verbrechen, die ihre Regierung auf Grund eines solchen Gesetzes ›legal‹ begangen hat, kein Recht, die Exekutive wieder mit praktisch unbeschränkten Vollmachten auszustatten.«1 Adorno argwöhnte sogar »Notstandsfreude« bei denen, die so etwas vorhatten. »Fühlt man sich einmal dessen sicher, was alles man mit den Notstandsgesetzen decken kann, so werden sich Gelegenheiten, sie zu praktizieren, schon finden.«2

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