Ökonomische Opfer im Osten?
von Till HilmarWarum sind AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) so stark in den ostdeutschen Bundesländern? Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen im September 2024 erlangten sie gemeinsam fast die Mehrheit der Stimmen. Die Erklärungen dafür kreisen um zwei zentrale Punkte: zum einen das verführerische Versprechen von »Frieden«: Beide Parteien stiften die Vision, mit Putins Russland einen Deal aushandeln zu können. Sie lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine ab, fordern ein Ende der Sanktionen – ihre Argumente dafür knüpfen an geopolitische Vorstellungen und Geschichtsbilder aus DDR-Zeiten an. Zum anderen schüren sie Ängste vor Migration und zeichnen ein düsteres Bild des drohenden Kontrollverlusts im demografischen Wandel.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Parteien wird in der Regel allerdings übersehen: Beide bedienen sich derselben ökonomischen Narrative. Sie entwickeln eine scheinbar paradoxe Erzählung, in der die Ostdeutschen als wirtschaftliche Opfer erscheinen, die im gleichen Atemzug ihren Opferstatus zurückweisen. Es handelt sich um eine retrospektive Deutung der ökonomischen Abwertung, die viele in den 1990er Jahren erfahren haben. Die Erinnerungen an den wirtschaftlichen Umbruch haben heute eine besondere politische und kulturelle Sprengkraft, die sowohl von der AfD als auch vom BSW geschickt genutzt wird.
Identitätsstiftung
Die Erinnerung an die Transformationszeit ist mit einer Vielzahl von Ungerechtigkeitserzählungen verbunden, die politische, ökonomische, kulturelle, soziale Erfahrungen der Abwertung dessen umfassen, was es heißt, »ostdeutsch« zu sein. In den Medien und in der Wissenschaft wird insbesondere die politische Dimension thematisiert. Ostdeutsche fühlen sich bis heute als »Bürger zweiter Klasse«. Auch wenn es Fortschritte gibt, sind Ostdeutsche noch immer unterrepräsentiert in den Fluren der Macht, der Wirtschaft, der Medien, der Wissenschaft und der Kultur. Die wirtschaftliche Abwertung, die Privatisierung, die Schließung von Tausenden Betrieben, die Massenarbeitslosigkeit der neunziger Jahre werden in der öffentlichen Debatte dreißig Jahre nach dem Ende der Treuhand hingegen weitgehend als Themen der Vergangenheit wahrgenommen.
Heutzutage, so wird immer wieder argumentiert, gehe es vielen Regionen in Ostdeutschland wirtschaftlich blendend. Der Ökonom Joachim Ragnitz stellte unlängst in einem Interview ausdrücklich fest, dass sich die Erfolge von AfD und BSW nicht direkt mit wirtschaftlichen Faktoren erklären ließen. Zu groß seien die Unterschiede zwischen relevanten Faktoren in den verschiedenen Regionen. Sind es also gar keine wirtschaftlichen Missstände, die Wäh-ler und Wählerinnen zu den Populisten treiben?
Wer so argumentiert, übersieht, dass Ökonomie nicht allein aus abstrakt-allgemeinen Größen wie Wachstumsraten, Umsatzzahlen oder Produktivitätsniveaus besteht, sondern sich im alltäglichen Erleben niederschlägt, in konkreten Erfahrungen, Affekten und Projektionen. Die Art und Weise, wie Menschen Veränderungen der Preise im Supermarktregal oder auf dem Wochenmarkt wahrnehmen, ist von einer Vielzahl an Emotionen geprägt, zum Beispiel Wut, Sorge, Frustration oder auch dem Bedürfnis nach Vergeltung. Das Gefühl, dass der eigene Lohn nicht ausreicht, der beklemmende Gedanke an das Monatsende oder der Eindruck, dass die eigenen Kompetenzen am Arbeitsplatz nicht wahrgenommen werden – das sind zunächst individuelle ökonomische Erfahrungen, die man als arbeitende oder konsumierende Person macht.
Doch das Soziale kommt unweigerlich ins Spiel: Man fragt sich, wie andere sich bestimmte Dinge leisten können, warum deren Ambitionen am Arbeitsplatz von Vorgesetzten und Kolleginnen wertgeschätzt werden. Und die Gefühle, mit denen wirtschaftliche Erfahrungen verarbeitet werden, verbinden das eigene Erleben mit dem der anderen und schaffen eine relationale Brücke, die individuelle wirtschaftliche Erfahrungen zur zwischenmenschlichen Angelegenheit machen. Als solche können sie ein Zugehörigkeitsgefühl stiften und damit identitätsbildend wirken. Der Sozialhistoriker Edward P. Thompson hat das am Beispiel der Frühphase der industriellen Revolution im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschrieben: Die Abwertung der eigenen Arbeitskraft, sogar materielle Not überträgt sich nicht direkt in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen. Das passiert erst, wenn ökonomische Einschnitte in sozialen Gruppen und auf Initiative starker Meinungsführer kollektiv als Ungerechtigkeit interpretiert werden und das Ungerechtigkeitsgefühl kausal organisiert wird – wenn also Verantwortliche benannt werden. So kann eine Leidensgemeinschaft entstehen, die sich in ihrem gemeinsamen Erleben vereint und nach Ermächtigung drängt.
Enttäuschte Erwartungen
Die soziale Verfestigung von Ungerechtigkeitsgefühlen bringt die Viktimisierung, die (Selbst)Zuschreibung eines Opferstatus hervor. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt dies als einen zutiefst widersprüchlichen Vorgang. Viktimisierung hat zwei Seiten: erstens das Moment der Scham. Erfahrungen wie Arbeitslosigkeit, das Angewiesensein auf das Arbeitsamt in den 1990er Jahren – allein bis zum Jahr 1994 hatte schon mehr als die Hälfte der Ostdeutschen im arbeitsfähigen Alter Erfahrungen mit Arbeitsämtern und staatlich subventionierten Beschäftigungsformen gemacht –, oder auch das Angestelltbleiben in einem Betrieb, wenn rundherum alle anderen gehen müssen, sind mit Scham behaftet. Das Gefühl der Scham erzeugt zwei widersprüchliche Bedürfnisse: einerseits den Wunsch nach Artikulation und Anerkennung des Opferstatus, andererseits den Wunsch, diesen Status zu beschweigen – denn es handelt sich um eine Erniedrigungserfahrung. Niemand möchte »Opfer sein«, niemand möchte sich selbst auf eine passive, erniedrigte Rolle reduziert sehen.
Die zweite Seite ist die der Anklage nach außen. Es handelt sich um eine Selbstermächtigung und anklagende Benennung derjenigen, die einen zum Opfer gemacht haben. Es ist der Wunsch nach Vergeltung oder Entschädigung. Gerichtet gegen die Westdeutschen, die in den frühen neunziger Jahren die Führungspositionen in den übriggebliebenen Betrieben eingenommen oder die Privatisierung organisiert haben. Der Opferstatus ist deshalb schwer zu ertragen, er treibt den Menschen immer zugleich in verschiedene, widerstrebende Richtungen.
Wer bei AfD und BSW genau hinhört, erkennt, dass sie in ihrer direkten Kommunikation die verletzte Seite des Opferstatus – das Passive, das Bedürftige, das Un-tergeordnete – bewusst vermeiden. Stattdessen zielen sie auf ein aktives Prinzip – das Prinzip der Leistung. Leistung deckt aber gerade beide Elemente dieses scheinbar widersprüchlichen Schemas der Opfererzählung ab. Die Erinnerung an die 1990er Jahre speist sich aus der Kränkung enttäuschter Leistungserwartungen, die allerdings nur schwer artikulierbar sind, weil sie wie in jeder kapitalistischen Gesellschaft mit Scham behaftet sind. Wer sich über einen zu niedrigen Lohn beschwert, läuft Gefahr, als neiderfüllt oder gierig abgestempelt zu werden oder selbst die Schuld für das eigene Zurückbleiben zugerechnet zu bekommen. An die ostdeutsche Leistungsbereitschaft zu erinnern verspricht demgegenüber eine Überwindung von Scham und Schwäche, einen Weg der Ermächtigung, das Wiedererlangen von Autonomie und Unabhängigkeit.