Heft 910, März 2025

Ökonomische Opfer im Osten?

von Till Hilmar

Warum sind AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) so stark in den ostdeutschen Bundesländern? Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen im September 2024 erlangten sie gemeinsam fast die Mehrheit der Stimmen. Die Erklärungen dafür kreisen um zwei zentrale Punkte: zum einen das verführerische Versprechen von »Frieden«: Beide Parteien stiften die Vision, mit Putins Russland einen Deal aushandeln zu können. Sie lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine ab, fordern ein Ende der Sanktionen – ihre Argumente dafür knüpfen an geopolitische Vorstellungen und Geschichtsbilder aus DDR-Zeiten an. Zum anderen schüren sie Ängste vor Migration und zeichnen ein düsteres Bild des drohenden Kontrollverlusts im demografischen Wandel.

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Parteien wird in der Regel allerdings übersehen: Beide bedienen sich derselben ökonomischen Narrative. Sie entwickeln eine scheinbar paradoxe Erzählung, in der die Ostdeutschen als wirtschaftliche Opfer erscheinen, die im gleichen Atemzug ihren Opferstatus zurückweisen. Es handelt sich um eine retrospektive Deutung der ökonomischen Abwertung, die viele in den 1990er Jahren erfahren haben. Die Erinnerungen an den wirtschaftlichen Umbruch haben heute eine besondere politische und kulturelle Sprengkraft, die sowohl von der AfD als auch vom BSW geschickt genutzt wird.

Identitätsstiftung

Die Erinnerung an die Transformationszeit ist mit einer Vielzahl von Ungerechtigkeitserzählungen verbunden, die politische, ökonomische, kulturelle, soziale Erfahrungen der Abwertung dessen umfassen, was es heißt, »ostdeutsch« zu sein. In den Medien und in der Wissenschaft wird insbesondere die politische Dimension thematisiert. Ostdeutsche fühlen sich bis heute als »Bürger zweiter Klasse«. Auch wenn es Fortschritte gibt, sind Ostdeutsche noch immer unterrepräsentiert in den Fluren der Macht, der Wirtschaft, der Medien, der Wissenschaft und der Kultur. Die wirtschaftliche Abwertung, die Privatisierung, die Schließung von Tausenden Betrieben, die Massenarbeitslosigkeit der neunziger Jahre werden in der öffentlichen Debatte dreißig Jahre nach dem Ende der Treuhand hingegen weitgehend als Themen der Vergangenheit wahrgenommen.

Heutzutage, so wird immer wieder argumentiert, gehe es vielen Regionen in Ostdeutschland wirtschaftlich blendend. Der Ökonom Joachim Ragnitz stellte unlängst in einem Interview ausdrücklich fest, dass sich die Erfolge von AfD und BSW nicht direkt mit wirtschaftlichen Faktoren erklären ließen.1 Zu groß seien die Unterschiede zwischen relevanten Faktoren in den verschiedenen Regionen. Sind es also gar keine wirtschaftlichen Missstände, die Wäh-ler und Wählerinnen zu den Populisten treiben?

Wer so argumentiert, übersieht, dass Ökonomie nicht allein aus abstrakt-allgemeinen Größen wie Wachstumsraten, Umsatzzahlen oder Produktivitätsniveaus besteht, sondern sich im alltäglichen Erleben niederschlägt, in konkreten Erfahrungen, Affekten und Projektionen. Die Art und Weise, wie Menschen Veränderungen der Preise im Supermarktregal oder auf dem Wochenmarkt wahrnehmen, ist von einer Vielzahl an Emotionen geprägt, zum Beispiel Wut, Sorge, Frustration oder auch dem Bedürfnis nach Vergeltung. Das Gefühl, dass der eigene Lohn nicht ausreicht, der beklemmende Gedanke an das Monatsende oder der Eindruck, dass die eigenen Kompetenzen am Arbeitsplatz nicht wahrgenommen werden – das sind zunächst individuelle ökonomische Erfahrungen, die man als arbeitende oder konsumierende Person macht.

Doch das Soziale kommt unweigerlich ins Spiel: Man fragt sich, wie andere sich bestimmte Dinge leisten können, warum deren Ambitionen am Arbeitsplatz von Vorgesetzten und Kolleginnen wertgeschätzt werden. Und die Gefühle, mit denen wirtschaftliche Erfahrungen verarbeitet werden, verbinden das eigene Erleben mit dem der anderen und schaffen eine relationale Brücke, die individuelle wirtschaftliche Erfahrungen zur zwischenmenschlichen Angelegenheit machen. Als solche können sie ein Zugehörigkeitsgefühl stiften und damit identitätsbildend wirken. Der Sozialhistoriker Edward P. Thompson hat das am Beispiel der Frühphase der industriellen Revolution im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschrieben: Die Abwertung der eigenen Arbeitskraft, sogar materielle Not überträgt sich nicht direkt in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen. Das passiert erst, wenn ökonomische Einschnitte in sozialen Gruppen und auf Initiative starker Meinungsführer kollektiv als Ungerechtigkeit interpretiert werden und das Ungerechtigkeitsgefühl kausal organisiert wird – wenn also Verantwortliche benannt werden. So kann eine Leidensgemeinschaft entstehen, die sich in ihrem gemeinsamen Erleben vereint und nach Ermächtigung drängt.

Enttäuschte Erwartungen

Die soziale Verfestigung von Ungerechtigkeitsgefühlen bringt die Viktimisierung, die (Selbst)Zuschreibung eines Opferstatus hervor. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt dies als einen zutiefst widersprüchlichen Vorgang.2 Viktimisierung hat zwei Seiten: erstens das Moment der Scham.3 Erfahrungen wie Arbeitslosigkeit, das Angewiesensein auf das Arbeitsamt in den 1990er Jahren – allein bis zum Jahr 1994 hatte schon mehr als die Hälfte der Ostdeutschen im arbeitsfähigen Alter Erfahrungen mit Arbeitsämtern und staatlich subventionierten Beschäftigungsformen gemacht –,4 oder auch das Angestelltbleiben in einem Betrieb, wenn rundherum alle anderen gehen müssen, sind mit Scham behaftet. Das Gefühl der Scham erzeugt zwei widersprüchliche Bedürfnisse: einerseits den Wunsch nach Artikulation und Anerkennung des Opferstatus, andererseits den Wunsch, diesen Status zu beschweigen – denn es handelt sich um eine Erniedrigungserfahrung. Niemand möchte »Opfer sein«, niemand möchte sich selbst auf eine passive, erniedrigte Rolle reduziert sehen.

Die zweite Seite ist die der Anklage nach außen. Es handelt sich um eine Selbstermächtigung und anklagende Benennung derjenigen, die einen zum Opfer gemacht haben. Es ist der Wunsch nach Vergeltung oder Entschädigung.5 Gerichtet gegen die Westdeutschen, die in den frühen neunziger Jahren die Führungspositionen in den übriggebliebenen Betrieben eingenommen oder die Privatisierung organisiert haben. Der Opferstatus ist deshalb schwer zu ertragen, er treibt den Menschen immer zugleich in verschiedene, widerstrebende Richtungen.

Wer bei AfD und BSW genau hinhört, erkennt, dass sie in ihrer direkten Kommunikation die verletzte Seite des Opferstatus – das Passive, das Bedürftige, das Un-tergeordnete – bewusst vermeiden. Stattdessen zielen sie auf ein aktives Prinzip – das Prinzip der Leistung. Leistung deckt aber gerade beide Elemente dieses scheinbar widersprüchlichen Schemas der Opfererzählung ab. Die Erinnerung an die 1990er Jahre speist sich aus der Kränkung enttäuschter Leistungserwartungen, die allerdings nur schwer artikulierbar sind, weil sie wie in jeder kapitalistischen Gesellschaft mit Scham behaftet sind. Wer sich über einen zu niedrigen Lohn beschwert, läuft Gefahr, als neiderfüllt oder gierig abgestempelt zu werden oder selbst die Schuld für das eigene Zurückbleiben zugerechnet zu bekommen. An die ostdeutsche Leistungsbereitschaft zu erinnern verspricht demgegenüber eine Überwindung von Scham und Schwäche, einen Weg der Ermächtigung, das Wiedererlangen von Autonomie und Unabhängigkeit.

Im Parteiprogramm des BSW von 2024 wird gleich als erster Punkt die »wirtschaftliche Vernunft« beschworen und Deutschland als »Industrienation« charakterisiert, der der »Verlust wichtiger Industrien« drohe.6 Für ehemalige DDR-Bürgerinnen, die die Deindustrialisierung der Nachwendejahre erlebt haben – die industrielle Produktion ging in den ersten zwei Jahren nach dem Fall der Mauer um rund 75 Prozent zurück –, sind das Signalwörter, die gewichtige Erfahrungen aufrufen. Wagenknecht spricht damit die hohe Leistungsbereitschaft der ostdeutschen Industriearbeiterschaft an: »Industrie« ist ein Versprechen ostdeutschen Zusammenhalts, ein Bild, das die Heilung gesellschaftlicher Konflikte suggeriert – insbesondere der Ungleichheitskonflikte, die wie ein Riss durch die ostdeutsche Gesellschaft gehen.

Im AfD-Wahlprogramm für die Europawahl 2024 ist von den »industriellen Grundlagen unseres Wohlstands«, die es zu schützen gilt, zu lesen.7 Die Partei hat sich wirtschaftspolitisch insbesondere den Kampf gegen die grüne Transformation als »Bedrohung« des Wirtschaftsstandorts Deutschland auf die Fahnen geschrieben. Das Signalwort »Deindustrialisierung« hat sie in diesem Kontext schon in den Merkel-Jahren immer wieder vorgebracht. Die AfD operiert mit dem Bild der fleißigen Industrienation, einer bestimmten sozialmoralischen Ordnung und des Interessenausgleichs. Damit beansprucht sie weniger ökonomische Expertise, als dass sie ostdeutsche wirtschaftliche Erfahrungen und ihre Deutungen anspricht.

Nur selten wird konkrete wirtschaftliche Abwertung thematisiert, vielmehr konzentriert sie sich auf den Aspekt der Ermächtigung. Im Wahlprogramm der AfD Thüringen aus dem Jahr 2019 findet sich dazu der denkwürdige Satz: »Wir sind stolz auf die hohe Leistungsbereitschaft und -fähigkeit unserer Arbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler, Angestellten und Unternehmer. Ihre Leistung ist insbesondere anerkennenswert, weil Thüringen nach wie vor mit massiven strukturellen Defiziten kämpft, die sich aus vier Jahrzehnten sozialistischer SED-Herrschaft und einem stellenweise falsch angelegten Vereinigungsprozess ergeben haben.«8

Diese Sätze rufen den Doppelaspekt der Opfererzählung auf – explizit die Ermächtigung und implizit die Kränkung. Denn die DDR-Gesellschaft hielt das Leistungsprinzip hoch. Leistung wurde politisch durch Produktionsnormen, also planwirtschaftliche Vorgaben, in den Betrieben eingefordert, sie war aber auch in den Kollektiven ein Symbol des sozialen Zusammenhalts. Leistungsorientierung prägte, wie der Historiker Clemens Villinger gezeigt hat, auch die Konsumerwartungen der DDR-Bürger.9 »Produktive Arbeit« war natürlich eine ideologische Floskel, aber auch eine gelebte Realität, eine Norm im Betrieb, die durch soziale Kontrolle und moralische Erwartungen »von unten« durchgesetzt wurde. Ostdeutsche verstanden sich nicht nur als »Werktätige« in der »Arbeitsgesellschaft«, sondern auch als durch und durch leistungsorientiert. Wer als »unproduktiv« galt, musste sich schämen. Im besten Fall war dies »nur« durch soziale Kontrolle geregelt – denn auch Denunziation und Strafverfolgung waren für »unproduktives« Verhalten an der Tagesordnung, zunehmend in der Spätphase der DDR.

Leistungssemantiken

Viele Ostdeutsche verbanden die deutsche Einheit gerade mit dem Leistungsversprechen der »sozialen Marktwirtschaft«: als Beginn einer neuen Zeit, in der diejenigen, die sich anstrengen, endlich belohnt werden. In Interviews mit Personen, die die Nachwendezeit als beruflichen Einschnitt erlebt haben, zeigt sich das deutlich.10 Ein Ingenieur, der nach dem Mauerfall sein eigenes erfolgreiches Unternehmen gründete, erinnert sich: »Ich hab’ gesagt, na gut wenn ihr unbedingt jetzt Wiedervereinigung wollt, ich denke, ich kann mit der Marktwirtschaft gut umgehen […] Aber dann müssen wir uns alle bewegen, ja?« Und er führt weiter aus, dass man nach der Wende »ja die Möglichkeit hatte«, dass es trotz des Kahlschlags am Arbeitsmarkt letztlich eine Frage der Einstellung war: »Wenn ich von vornherein zumache und sage, jetzt haben sie mir das weggenommen und jetzt seht doch mal zu, dass ihr mich qualifiziert […], dann muss ich sagen: Mensch, hey, du bist doch ein Stück weit für dich selber verantwortlich!«

Ein anderer Gesprächspartner erklärt, dass die weitverbreitete Arbeitslosigkeit in den frühen neunziger Jahren zwar eine gemeinsame Erfahrung war und Einzelne zunächst keine Schuld traf. Doch »15 oder 20 Jahre nach der Wende« könne »man nicht das System dafür verantwortlich machen, wenn einer einfach keinen Job findet«. Er markiert hier eine zeitliche Grenze, ab wann das Leistungsprinzip wieder uneingeschränkt galt. Dabei zeigen Lebenslaufstudien, dass Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit in den ersten Jahren nach der Wende sogar die Wahrscheinlichkeit erhöhten, später erneut den Job zu verlieren. Sogar Personen, die selbst mehrmals arbeitslos waren, halten jedoch an der Orientierung an individueller Leistung als Gestaltungsprinzip der eigenen biografischen Erzählung fest – das gibt ihnen die Möglichkeit zu sagen, dass sie Verantwortung übernommen und die schwierigen wirtschaftlichen Zeiten gemeistert haben.

Viele dieser Erinnerungen bringen eine moralische Verankerung des Leistungsprinzips als Norm zum Ausdruck. Die Erzählungen spiegeln oft ein Abwägen der Gründe wider, warum Einzelpersonen nach der Wende wirtschaftlich ins Straucheln gerieten: Einerseits werden strukturelle Benachteiligungen wie Alter, Krankheit oder fehlende soziale Netzwerke anerkannt, andererseits wird die Rolle von individueller Motivation und Charaktereigenschaften besonders betont. Am Ende – und hier verdichten sich biografische Erinnerungen zu Ungleichheitslegitimationen – liegt die Beweislast allerdings bei Argumenten, die die Gültigkeit der individuellen Leistungsnorm infrage stellen.

Das ist jedoch nicht als Anpassungseifer an die westdeutsche Gesellschaft zu verstehen. Ein wichtiger immanenter Gehalt dieser Erinnerungen ist die scharf markierte Grenze zur DDR-Günstlingswirtschaft und den allgegenwärtigen politischen Netzwerken der Parteigänger – den »Kadern« und »roten Direktoren« in den staatssozialistischen Betrieben. Es ist die Abgrenzung zu einem Modus der Ressourcenallokation, in dem einzelne Personen Positionen und Anerkennung nicht auf der Grundlage dessen bekommen, was sie tun, sondern wer sie sind. Das wird als ungerecht wahrgenommen, denn die einzige »Qualifikation« ist in diesem Fall, dass sie sich loyal gegenüber denen zeigen, die etwas zu verteilen haben.

In der ostdeutschen Erinnerung an die Transformationszeit taucht der Begriff des »Wendehalses« auf – eine Personifizierung dieses Ungerechtigkeitsprinzips, die die Opportunisten von damals als Relikte der DDR-Vergangenheit beschreibt, die nach 1989 in neuer Form wieder auftauchten. Sich vom »Wendehals« abzugrenzen, also Distanz zu jenen zu wahren, die sich nach der Wende mit fragwürdigen Methoden bereichern wollten, ist ein moralisches Grundprinzip in vielen Erzählungen. Ein Ingenieur Ende sechzig, der nach der Wende mehrfach arbeitslos wurde und sich immer wieder neu orientieren musste, bezeichnet diese Leute als jene, die schon vor der Wende »Wasser gepredigt und Wein getrunken haben« und später zu Hauptideologen des Marktes wurden. Nach der Wende, so erzählt er, hätten diese Personen in Berufen wie »Wirtschaftsberater«, »Verkaufsleute« oder »Versicherungsvertreter« Fuß gefasst – Tätigkeiten, die aus seiner Sicht mit produktiver Arbeit nichts zu tun haben und nichts zur Gemeinschaft beitragen. Stattdessen stehen sie für schnellen, jedoch unverdienten wirtschaftlichen Erfolg.

Demgegenüber wird »technische Kompetenz« und die Fähigkeit, »den Dingen auf den Grund zu gehen«, oft als legitimes – und genuin ostdeutsches – Prinzip hinter wirtschaftlichem Erfolg erzählt. Wer genau hinhört, erkennt, dass die Betonung individueller Leistung sogar mit einem Egalitätsprinzip verbunden wird – nämlich mit der Vorstellung, dass die Bedingungen in den frühen 1990er Jahren für alle gewissermaßen gleich waren, dass sich also jeder und jede gleichermaßen anstrengen musste und niemand sich einen Sonderstatus herausnehmen durfte. Die Konstruktion von verdienter Leistung spielt in vielen Lebensgeschichten eine elementare Rolle. Das Bedürfnis, die eigene Biografie als moralisch konsistent und die eigenen beruflichen Erfolge als verdient darzustellen, ist allgegenwärtig.

Strukturelle Blockaden

Für viele Jahre, ja sogar Jahrzehnte wurde dieses ostdeutsche Selbstverständnis in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit ignoriert oder abgetan. In den ersten beiden Nachwendejahrzehnten war häufig zu hören, die ostdeutschen Betriebe müssten »entrümpelt« werden. Dass die ostdeutsche Wirtschaft nicht produktiv genug sei, weil das ökonomische Erbe des DDR-Sozialismus dem Leistungsparadigma diametral entgegenstehe. Der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn war der Meinung, die Ursache der Produktivitätslücke zwischen West und Ost läge darin, dass ostdeutsche Arbeit nach der Wende zu großzügig entlohnt worden sei (er nannte es das »Mezzogiorno-Problem«).11

Der Soziologe Thomas Roethe veröffentlichte 1999 eine polemische Streitschrift, in der er den Ostdeutschen eine grundsätzliche Unwilligkeit zur leistungsorientierten Arbeit attestierte. Mit stark metaphorisch aufgeladenen Bildern charakterisierte er sie im Sinne einer »moral panic« als Konsumierende, die auf Kosten der westdeutschen Produktivität und des westdeutschen Sozialmodells ihren Lebensstil genössen. Solche Deutungen wirken bis heute nach.12

Ein Verdienst des Historikers Marcus Böick war es, aufzuzeigen, dass der Diskurs über den »Aufbau Ost« die vielfachen Konsequenzen der Privatisierungen der neunziger Jahre, insbesondere der Treuhandanstalt, nicht systematisch berücksichtigte.13 Ansonsten hätte man die zahlreichen strukturellen Blockaden – wie fehlende Investitionen, kleine Betriebsgrößen, die Dominanz westdeutscher Netzwerke und die Schwierigkeit, sich auf westdeutschen Märkten zu etablieren –, die durch die Privatisierung erst gefestigt wurden, deutlicher gesehen. Und hätte die ostdeutschen Erwerbstätigen nicht für die ökonomischen Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht.

Wie folgenreich diese Zuschreibungen sind, wird im Vergleich mit anderen postsozialistischen Gesellschaften deutlich.14 Die Tschechische Republik bietet sich als Vergleichsfall an. Vor 1989 hatten die DDR und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik ähnliche soziale und wirtschaftliche Modelle entwickelt. Claus Offe bezeichnete sie als die beiden staatssozialistischen »Vorzeigemodelle«, die das Prinzip der »wirtschaftlichen Integration« als eine Art Gesellschaftsvertrag hochhielten.15 Beide Länder verfügten über starke industrielle Traditionen und waren von großen staatseigenen Unternehmen dominiert. Es herrschte nahezu Vollbeschäftigung sowohl für Männer als auch für Frauen. Stolz auf die technischen Traditionen, ein Erbe der industriellen Kernregionen entlang der Elbe, war weit verbreitet und wurde von den Regimen gezielt in Form eines wirtschaftlichen Nationalismus propagiert.

Die Revolutionen von 1989 führten die beiden Gesellschaften in radikal unterschiedliche politische und wirtschaftliche Richtungen. Deutschland wurde vereint, die Tschechoslowakei aufgeteilt. Wirtschaftlich erlebte Ostdeutschland einen tiefgreifenden Bruch, während in Tschechien die industriellen Strukturen stärker bewahrt wurden. Allerdings stagnierten dort die Löhne, insbesondere im öffentlichen Sektor, auf einem außerordentlich niedrigen Niveau, weit über die erste Dekade nach 1989 hinaus.

Ein zentraler Unterschied lag in der Art und Weise, wie mit diesem Leistungserbe jeweils umgegangen wurde: In Tschechien wurden die Bürger nach der Revolution konsequent als »hart arbeitend« und als männlich-ausdauernd angesprochen. Diese Rhetorik verdeckte die wachsenden Ungleichheiten, aber die symbolische Ressource des Leistungsstolzes der Industriegesellschaft wurde dort in den neunziger Jahren – zumindest auf der Ebene der öffentlichen Kommunikation – nicht gebrochen.

Vor einigen Jahren wurde das Thema der ostdeutschen Leistung in einer breiteren Öffentlichkeit auf Initiative der SPD-Politikerin Petra Köpping diskutiert.16 Durch biografische Gespräche hat sie nachgezeichnet, welch wichtige Rolle das Gefühl, die eigene Leistung und der eigene Leistungswille wären nach der Wende nicht anerkennt worden, für viele Menschen spielt. Das wurde in der öffentlichen Debatte, die ihre Intervention angestoßen hatte, aber rasch wieder verwässert. Darin wurde bezeichnenderweise nicht über ostdeutsche Leistung gesprochen, sondern vielmehr über die Frage der ostdeutschen »Lebensleistung«. Das war eine Begriffsschöpfung, die sicherlich aus wohlmeinenden Intentionen heraus entstand. Aber sie verschob die Bedeutung vom Ökonomischen hin zu einer unspezifischen, künstlichen Anerkennungskategorie und verfehlte damit den Kern der Problematik – und die Stimmen der betroffenen Menschen.

Die Corona-Pandemie hat einiges aufgebrochen und latente Deutungen an die Oberfläche gebracht. Vielleicht weil es sich hier erneut um ein historisches Ereignis mit weitreichenden ökonomischen Konsequenzen handelte, um einen Kontext, in dem Opfererzählungen relevant werden. Als Zäsur, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensbereiche gleichermaßen betraf, ist die Pandemie vergleichbar mit 1989/90. So manch einer musste im Osten während der Corona-Jahre beim Thema »Kurzarbeit« wohl auch schlucken – man fühlte sich an die frühen 1990er Jahre erinnert.

Zweifelsfrei hat die Pandemie das Leistungsversprechen (erneut) untergraben. Deutlicher als vielleicht je zuvor wurden die vielfachen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten innerhalb der deutschen Gesellschaft sichtbar – die widrigen und ausbeuterischen Bedingungen in der Pflege, in der Logistik, in der Gastronomie, im Niedriglohnsektor überhaupt. In einem solchen gesellschaftlichen Klima wächst das Bedürfnis, den eigenen ökonomischen Opferstatus auszudrücken, und der Wunsch, ihn durch einen Akt politischer Ermächtigung zu überwinden.

Staat vs. Markt in der Erinnerung

Die AfD wie auch das BSW rufen aktuell noch eine weitere ökonomische Erinnerung an die neunziger Jahre auf, die durch die Pandemieerfahrung angereichert ist und ebenfalls mit Leistungssemantiken zusammenhängt: das Motiv der Bürokratisierung und der »überbordenden«, »irrationalen« staatlichen Tätigkeit. Die Ausweitung von Staatlichkeit, so zeigt sich in biografischen Gesprächen, wird oft als Blockade von Leistungschancen im Osten der neunziger Jahre erinnert. Sie wird mit sehr unterschiedlichen, als Beschränkung der eigenen Autonomie wahrgenommenen Erfahrungen am Arbeitsplatz verknüpft – sei es das Umsetzen westdeutscher Normen in der Bauwirtschaft, seien es versicherungstechnisch bedingte Regularien im Umgang mit Patientinnen in der Altenpflege. Analog dazu wird von manchen die Treuhandprivatisierung nicht als die Umsetzung des Marktprinzips, sondern vielmehr als eine willkürliche und wirtschaftlich ineffiziente Form der (westdeutschen) staatlichen Intervention erinnert.

Diese Deutungen spielen vermutlich eine Rolle dafür, dass »Bürokratieabbau« im Osten heute ein derart erfolgreiches Signalwort ist. Sahra Wagenknecht hat im November 2024 die Abschaffung des Heizungsgesetzes der Ampelregierung mit dem Hinweis darauf gefordert, dass dieses Gesetz ein illegitimes »Hineinregieren« in eine Sphäre sei, in der der Staat nichts verloren habe.17 Das passt zu einem globalen Trend, bei dem Rechtslibertäre bestimmte Formen von Staatlichkeit als »verschwenderisch« darstellen – siehe nur das geplante »Department of Government Efficiency« der Trump-Regierung. Im ostdeutschen Kontext knüpfen solche Argumente tendenziell an Semantiken der »Unproduktivität« der DDR-Zeit beziehungsweise der »Produktivitätslücke« der Nachwendezeit an.

Wurzeln in der Vergangenheit

Ist es denkbar, dass Bezüge zur Vergangenheit und die Deutungen ökonomischer Erfahrungen der Transformationszeit das politische Bewusstsein stärker prägen als aktuelle Erlebnisse? Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat dazu vor wenigen Jahren ein bemerkenswertes empirisches Ergebnis präsentiert: Nicht die aktuelle Arbeitslosigkeit, sondern vergangene Erfahrungen von Arbeitslosigkeit erklären laut seiner Studie die Wahlabsicht für die AfD unter Ostdeutschen.18

Auf jeden Fall scheint es wichtig, anzuerkennen, dass die Erinnerungen an die neunziger Jahre und die prägenden ökonomischen Erfahrungen dieser Zeit wie ein Deutungsrahmen wirken, durch den aktuelle Entwicklungen gesehen und verstanden werden. Auch in Begegnungen am Arbeitsplatz und vor dem Supermarktregal zeigt sich, dass es nicht allein die gegenwärtige Situation ist, die das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen beeinflusst. Viele der relevanten sozialen Erfahrungen rund um wirtschaftliches Leben – insbesondere solche, die den Sinn für Gerechtigkeit langfristig formen – wurzeln in der Vergangenheit.19 Diese Erfahrungen bleiben wirksam und beschäftigen die Menschen bis heute.

Vergegenwärtigungen dieser Art erfolgen allerdings nicht beliebig, sondern sind von bestimmten strukturellen Bedingungen geprägt. In Ostdeutschland sind das die von Steffen Mau so bezeichneten »Flurschäden« der Transformation wie große regionale Disparitäten, ein weitverbreiteter Niedriglohnsektor, geringe soziale Mobilität und fehlendes Kapital (die Vermögen ostdeutscher Haushalte, daran erinnert Mau, sind nur halb so groß wie die westdeutscher).20 Ostdeutschland ist heute ein »Land der kleinen Leute«, geprägt durch die vielfachen Verwerfungen der Nachwendezeit.

Welche Aspekte solcher Ungleichheiten zu Identitätsfragen werden, lässt sich allerdings nicht allein aus der Sozialstruktur heraus erklären. Hier kommen Akteure und ihre affektiven, mit politischen Emotionen kolorierten Botschaften ins Spiel. AfD und BSW prägen das Terrain – die AfD kann sich dabei auf ihre mittlerweile starke lokalpolitische und zivilgesellschaftliche Verankerung stützen. Sie tun dies unter anderem durch ökonomische Opfererzählungen, durch das Andeuten bestimmter Erfahrungen und die suggerierte Überwindung des Stigmas als moralische Ermächtigung. Es ist durchaus eine Kunst, kollektive Deutungsmuster zu dekodieren, gezielt aufzugreifen und zu verstärken – ein Zugriff, der es ermöglicht, Scham zu überwinden und den ökonomischen Opferstatus zu mobilisieren.

Möglicherweise gelingt es den beiden Akteuren damit auch, an ein deutsches Ein-heitsversprechen symbolisch anzuknüpfen – denn Leistung erscheint als gesamtdeutscher Leitwert, der deutlich »neutra-ler« wirkt als die mittlerweile oft verhärteten politischen Identitätskonflikte zwischen Ost und West.

Eine monokausale Erklärung für den Aufstieg von AfD und BSW wird sich nicht finden lassen. Auch ist es zu kurz gedacht, in der AfD ein rein »ostdeutsches Phänomen« zu sehen. Die ökonomische Opfererzählung ist sicherlich nur ein Aspekt unter anderen. Trotzdem sollte sie mehr systematische Beachtung finden. Denn die Diagnose, dass wirtschaftliche Ursachen angesichts der Arbeitsmarktlage oder anderer aktueller Indikatoren keine Rolle spielen, und die in der Sozialforschung gängige Trennung zwischen wirtschaftlichen und kulturellen Erklärungen sind wenig hilfreich, will man den Erfolg von AfD und BSW besser verstehen und zivilgesellschaftliche und politische Gegenstrategien entwickeln. Die wichtige Frage lautet, warum die affektive und moralische Deutung von wirtschaftlichen Erfahrungen, die Menschen im Alltag machen, derzeit ausgerechnet von diesen beiden Parteien so erfolgreich genutzt wird.

1

»Der Osten wird nie an das Westniveau herankommen«. Gespräch mit dem Ökonomen Joachim Ragnitz. In: FAZ vom 22. August 2024.

2

Why Do We Make Our Emotions Match the Market? Aufhebunga Bunga Podcast mit Eva Illouz vom 30. Juli 2024 (bungacast.com/2024/07/30/427-why-do-we-make-our-emotions-match-the-market-ft-eva-illouz/).

3

Vgl. Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt: Campus 1991.

4

Anne Goedicke, A »Ready-Made State«: The Mode of Institutional Transition in East Germany After 1989. In: Martin Diewald /Anne Goedicke und Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), After the Fall of the Wall. Life Courses in the Transformation of East Germany. Stanford University Press 2006.

5

Im Ressentiment, das Friedrich Nietzsche und später Max Scheler beschrieben haben, ist die Viktimisierung von einem Gefühl der Unterlegenheit geprägt, und es folgt das Moment der Zuschreibung von Schuld an äußere Akteure. Im Ressentiment steht allerdings nicht so sehr die Scham, sondern der Neid oder der Wunsch nach Abwertung der Mächtigeren im Vordergrund. Für eine erweiterte sozialwissenschaftliche Perspektive auf das Konzept vgl. allerdings Mikko Salmela /Tereza Capelos, Ressentiment: A Complex Emotion or an Emotional Mechanism of Psychic Defences? In: Politics and Governance, Nr. 9/3, August 2021.

6

Bündnis Sahra Wagenknecht, Unser Parteiprogramm (bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/01/BSW_Parteiprogramm.pdf).

7

Alternative für Deutschland, Europawahl-programm 2024 (afd.de/wp-content/uploads/2023/11/2023-11-16-_-AfD-Europawahlprogramm-2024-_-web.pdf).

8

AfD Thüringen, Wahlprogramm für die Landtagswahl in Thüringen 2019 (https://afd-thueringen.de/thuringen-2/2019/09/wahlprogramm-der-afd-zur-thueringer-landtagswahl-2019/).

9

Clemens Villinger, Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel 1989/90. Berlin: Ch. Links 2022.

10

Till Hilmar, Deserved. Economic Memories After the Fall of the Iron Curtain. New York: Columbia University Press 2023.

11

Hans Werner Sinn / Hubert Giersch, Unser Mezzogiorno an der Elbe: In: SZ vom 29. September 2000 (hanswernersinn.de/de/medienecho_201777_ifostimme-sz29-09-00).

12

Thomas Roethe, Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist. Frankfurt: Eichborn 1999.

13

Marcus Böick /Christoph Lorke, Zwischen Aufschwung und Anpassung. Eine kleine Geschichte des »Aufbau Ost«. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

14

Hanna Haag /Till Hilmar (Hrsg.), Erinnerung des Umbruchs, Umbruch der Erinnerung. Die Nachwendezeit im deutschen und ostmitteleuropäischen Gedächtnis. Wiesbaden: Springer VS 2024.

15

Claus Offe, The Varieties of Transition. The East European and the East German Experience. Cambridge: Polity 1996.

16

Petra Köpping, Integriert doch erstmal uns! Eine Streitschrift für den Osten. Berlin: Ch. Links 2019.

17

Uwe Witt, Der schräge Klimakampf des BSW. Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 22. November 2024 (rosalux.de/news/id/52770/der-schraege-klimakampf-des-bsw).

18

Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin: Suhrkamp 2018.

19

Veronika Pehe /Joanna Wawrzyniak (Hrsg), Remembering the Neoliberal Turn: Economic Change and Collective Memory in Eastern Europe After 1989. New York: Routledge 2023.

20

Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Berlin: Suhrkamp 2024.