Opfergemeinschaft
Zwei freundliche Briefe und ein Bescheid von Robert KnightZwei freundliche Briefe und ein Bescheid
Im März 2022 erhielt ich einen Bescheid aus Wien (Amt der Wiener Landesregierung), der mir mitteilte, dass ich österreichischer Staatsbürger geworden war. Dem Bescheid lagen zwei freundliche Briefe bei, einer von Michael Ludwig, dem Bürgermeister von Wien: »Ich freue mich sehr, dass Sie sich dazu entschieden haben, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen. Es erfüllt mich mit großer Ehre und Dankbarkeit, dass Menschen in aller Welt, deren Vorfahren unter dem Grauen des Nationalsozialismus gelitten haben, weiterhin eine Verbundenheit zu österreich [sic] haben […] Ich empfinde es als Auszeichnung, wenn sich Menschen für die Österreichische Staatsbürgerschaft entscheiden, weil dies unter anderem auch ein Zeichen dafür ist, dass der Weg des friedlichen Miteinanders und des demokratischen Zusammenlebens, zu dem Österreich zurück finden konnte, anerkannt und geschätzt wird.« Alexander Schallenberg, damals österreichischer Außenminister, zeigte sich in seinem Schreiben nicht weniger wohlwollend. Sowohl die Briefe als auch der Vorgang selbst, der mich zum österreichischen Staatsbürger werden ließ, hinterließen gemischte Gefühle bei mir, darunter durchaus auch etwas Unbehagen.
Ein Grund dafür ist vielleicht die verblüffende Umkehrung in der Dynamik der Einbürgerung, die die Briefe nahelegen, und die im krassen Gegensatz zur üblichen Rollenverteilung im Einbürgerungsprozess steht. Schließlich verlangt dieser vom Antragsteller normalerweise, zum Bittsteller zu werden, in der Hoffnung, vom Staat anerkannt zu werden, und so den Pass, das »Objekt der Begierde«, zu erhalten. Eine Ablehnung des Antrags kann verheerende, wenn nicht gar tödliche Folgen haben. Kaum verwunderlich also, dass der Antragsteller, falls der aufreibende Prozess ein erfolgreiches Ende nimmt, in den meisten Fällen dankbar und wahrscheinlich nicht wenig erleichtert ist. In meinem Fall jedoch scheint das Verhältnis zwischen Geber und Empfänger verkehrt zu sein. Hier fühlt sich der Geberstaat (beziehungsweise seine Vertreter) geehrt, dass seine Zuwendung angenommen wird. Meine Gönner scheinen fast dankbar dafür zu sein, dass ich ihre Gabe angenommen habe.
Verzweiflung
Ich bin froh, einen österreichischen Pass zu bekommen. Unter den Motiven die zu meinem Antrag führten, spielten wohl familiäre, freundschaftliche, politische (Anti-Brexit) und weniger die (geringen) materiellen Vorteile eine Rolle. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich den Pass brauche. Auf jeden Fall brauche ich ihn nicht in dem verzweifelten Sinn, in dem meine Großeltern Alice und Heinrich Scheuer Dokumente gebraucht hätten, um 1938 aus Wien zu entkommen. Kurz bevor Österreich in den Abgrund stürzte, schaffte es Heinrich doch irgendwie, einen Pass für seinen Sohn Georg zu beschaffen. Mit seinem neuen Pass reiste Georg – gerade aus dem Gefängnis entlassen, in dem er wegen trotzkistischer Subversion saß – mit seiner Mutter zur tschechischen Grenze. Viele Jahrzehnte später erinnerte er sich an diese Reise: »Der Autobus Wien-Znaim schwankt durch aufgewühltes Land. In den Dörfern steigen betrunkene Bauern ein und verwünschen ›die Juden‹. Auf den Dorfstraßen singen Bauernburschen nationalsozialistische Lieder. Ich vermute zuerst regionale Unruhen, will noch nicht begreifen, dass Österreichs letzte Stunde schlägt. Unser Wagenlenker bleibt oft lang in Wirtshäusern, um Radiomeldungen zu hören. Schuschnigg hat abgedankt: ›Gott schütze Österreich!‹ Der deutsche Einmarsch steht bevor. Juda verrecke, brüllt ein Betrunkener, der einige Kilometer mit uns fährt. Ich beruhige meine Mutter mit leisen Worten […] Juda verrecke, grölt er wieder und steigt im nächsten Dorf mit anderen Burschen aus. Die Grenze ist nahe. Außer uns will an diesem Abend hier niemand mit diesem Bus das Land verlassen. Am Grenzübergang stehen noch österreichische Zollbeamte und Gendarmen. Der Anschluss hat Niederösterreich noch nicht erreicht […] Der Beamte grübelt, blättert. Schließlich telefoniert er mit seinem Vorgesetzten. Am anderen Ende antwortet eine Stimme, ich höre sie, verstehe sie aber nicht. Gut, sagt der Grenzbeamte und legt den Hörer auf. Gut, das kann alles bedeuten und nicht unbedingt Gutes. Wir haben keine Regierung mehr, also fahren Sie. Die alte Autorität ist untergegangen. Die neue noch nicht eingerichtet. Ein Vakuum von einigen Stunden. Vielleicht nur einigen Minuten. Wir rollen schon auf tschechoslowakischem Boden.«
Bald darauf beschloss Alice jedoch, nach Wien zurückzukehren. Georg erinnerte sich später an ihr letztes Treffen in Znaim (Znojmo): »Der Vater sei krank und ihr Platz sei dort in Wien, bei ihm, und es gebe keine andere Lösung. Meine Schwester werde auch bald ins Ausland kommen, die Kinder müssten weg. Die Alten seien schon zu alt, und man würde sie in Frieden lassen. Ich solle auf mich achten und ihr verzeihen. Hatte ich am Znaimer Bahnhof geahnt, dass ich sie zum letzten Mal umarmte und wir uns nie mehr sehen würden? Ich versuche, sie mir im Geiste noch einmal vorzustellen, die weißhaarige Frau auf dem Bahnsteig. Sehe sie winken und winken und sie wird immer kleiner, bis sie im Dampf der Lokomotive verschwunden ist …«
Das Wien, in das Alice zurückkehrte, war, wie Zuckmayer formuliert hat, ein »Hexensabbat des Pöbels und Begräbnis aller menschlichen Würde«. Ihr Mann Heinrich wurde von seiner Stelle bei der staatlichen Presseagentur Amtliche Nachrichtenstelle (heute APA /Austria Presse Agentur) fristlos entlassen. Dann wurden Heinrich, Alice und ihre Tochter Rose (meine Mutter) auch aus ihrer Wohnung im Gemeindebau im dritten Bezirk vertrieben. Vor dem Hintergrund der aufgeheizten, von Hass geprägten Stimmung wirkt die zurückhaltende Sprache des Nazi-Zellenleiters im Bericht an seine Vorgesetzten fast bizarr: Scheuer sei »im Hause als ruhiger Mensch bekannt, soll Jüdischer Abstammung sein nach Angaben der Portierin, kann somit nicht für uns gewesen sein«.
Unmittelbar nach dem Novemberpogrom wandte sich Heinrich an seinen ehemaligen Arbeitgeber (inzwischen in die Deutsche Presse Agentur integriert). Er bat geradezu flehentlich um Rat und fragte hilfesuchend, »ob Sie mir eine Auswanderung raten können, die freilich nur unter Verzicht auf die in voller Dienstzeit erarbeitete Pension möglich sein dürfte«.
Am Ende seines Gesuchs formulierte er sein Entsetzen über die Aussicht, in ein »Ghetto« ziehen zu müssen: »Ich möchte […] Sie, sehr geehrter Herr Direktor, heute auch fragen, ob Sie mir [zu einem Antrag auf einen Pass] raten können und ob Sie ein eventuelles Gesuch […] befürworten würden. Ich würde dann diesen Schritt tun, um für den Fall der Anordnung einer sofortigen Auswanderung oder für den Fall, als ich die Möglichkeit einer Einreise in irgendein Land habe, wenigstens sofort den hiesigen Pass für mich und meine Frau in Händen zu haben. Ich möchte jedenfalls irgendwie vorbereitet sein, denn wenn ich jetzt wieder meine Wohnung verliere und in ein Ghetto ziehen soll oder Wohnbezirk, dann möchte ich nicht mehr im Lande bleiben, dessen alter Kultur ich so viel zu verdanken habe. Verzeihen Sie bitte, sehr geehrter Herr Direktor, wenn vor Torschluss ein so langes Schriftstück in Ihre Hand kommt und bedenken Sie, es kommt von einem, dem in diesen Tagen der Mund verschlossen bleibt, weil er nur Schmerzliches zu berichten wüsste, von Ihrem sehr ergebenen, Heinrich Scheuer.«
Auch wenn sich Heinrich sicherlich die Ungeheuerlichkeit der »Ghettos«, die bald als Sammelstellen für den Holocaust eingerichtet werden sollten, nicht hat vorstellen können, erfüllte ihn die Vorstellung einer Rückkehr in »ein Ghetto« offensichtlich mit Entsetzen. Vielleicht war er dabei beeinflusst von Heinrich Graetz’ Darstellung der jüdischen Geschichte als einem Narrativ der hehren Geistigkeit angesichts der Verfolgung. Vermutlich wurde seine Sichtweise durch die Geschichte seines Heimatdorfs Schaffa (Šafov) in Südmähren geprägt, wo sich Juden nach ihrer Vertreibung aus Wien im Jahr 1670 niedergelassen hatten. Er wusste von der verordneten »Separierung« (1728), die Juden in eigenen Vierteln versammelte, vorgeblich um zu verhindern, dass sie Gottesdienste störten oder verunglimpften. Juden, die die Synagoge besuchten, durften nicht mehr über den Christenplatz gehen, Fenster wurden zugemauert, damit sie von der Kirche aus nicht gesehen werden konnten. Er wusste auch, wie sich in der Periode liberaler Emanzipation neue Möglichkeiten eröffneten. So wurde der Familie Scheuer gestattet, ihr Geschäft in das Dorfzentrum zu verlegen.