Orthodoxie der Eliten
von Jackson LearsDie Demokratie ist in der Krise, und alle suchen nach einem Schuldigen. Donald Trumps groteske Regierungsunfähigkeit hat ihn zum Buhmann werden lassen, aber die Probleme der Demokratie sind vertrackter, umfassender, und sie liegen tiefer. Ein Text, der einen Monat nach Trumps Wahl 2016 auf der liberalen Website Daily Kos veröffentlicht wurde, lässt die ganze Komplexität erahnen: »Freut euch für die Bergarbeiter, die ihre Krankenversicherung verlieren«, schmetterte die Überschrift. »Sie kriegen genau das, was sie gewählt haben.«
Das ist ein schroffer, kaltschnäuziger Affront: Offensichtlich brachte Trumps Sieg einige seiner Gegner dazu, seinen Anhängern mit doppelter Feindseligkeit entgegenzutreten. Doch zeigt der Blog-Beitrag auch allgemeiner, dass ein liberaler Demokrat zu sein nicht mehr das bedeutet, was es einmal bedeutete. Die Sympathie für die Arbeiterklasse ist bei vielen in Verachtung umgeschlagen. Das Konzept der »liberalen Demokratie«, einst voller Versprechen, war schon vor 2016 zu einer neoliberalen Politik verkommen, die weder liberal noch demokratisch war. Die Hinwendung der Demokratischen Partei zu einer marktorientierten Politik, die von beiden politischen Lagern vorangetriebene Demontage der öffentlichen Sphäre, die in luftigen Höhen, im Cockpit der Globalisierung, geschlossene Ehe von Wall Street und Silicon Valley – aus derlei Maßnahmen bestand die Augenwischerei der neoliberalen Agenda, die einer kleinen Minderheit von Amerikanern zu Reichtum verhalf, während sie die Mehrheit der übrigen Menschen in den Ruin trieb.
Auch 2020 unternahmen die Demokraten kaum Versuche, sich von diesem verhängnisvollen Erbe zu lösen. Schon 2019 gab Joe Biden persönlich den Vermögenden zu verstehen, dass sich mit seiner Wahl »nichts grundlegend ändern« würde, und beschwichtigte den sogenannten medizinisch-industriellen Komplex, indem er jede Debatte über eine staatliche Gesundheitsversorgung von vornherein ausschloss. Doch er machte keinen nennenswerten Anlauf, auf die Millionen von Amerikanern zuzugehen, die in den letzten Monaten ihren Arbeitsplatz, ihr Zuhause oder ihre Gesundheitsversorgung verloren hatten. Wer seinen Wahlkampf verfolgte, wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass die USA vor der schwersten und langwierigsten wirtschaftlichen Depression seit den 1930er Jahren standen. Daher sollte es nicht überraschen, dass Trump seinen Rückhalt unter ländlichen und weniger gebildeten Wählern aufrechterhalten und ihn unter Afroamerikanern und Latinos sogar ausbauen konnte.
Bei aller Scharlatanerie der Trump-Regierung spürten wohl viele Durchschnittsamerikaner eine Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar offene Feindseligkeit, die ihnen von Trumps demokratischen Gegnern entgegenschlug. Und sie lagen damit nicht falsch. Die Parteiführung der Demokraten hat sich von ihrer historischen Basis entfremdet.
Dass Linksliberale sich einen Spaß daraus machen, unverhohlen Bergarbeiter zu verhöhnen, offenbart seismische Veränderungen im allgemeineren öffentlichen Diskurs. Die Bergarbeiter bekamen »genau das, wofür sie gestimmt haben« – mit anderen Worten, genau das, was sie verdient haben. Der Glaube, dass Menschen stets bekommen, was sie verdienen, ist in der säkularen individualistischen Weltanschauung tief verwurzelt. In den Vereinigten Staaten dient diese Weltsicht seit Jahrhunderten der Rechtfertigung von Ungleichheit, seit die protestantische Arbeitsethik begann, sich in den Geist des Kapitalismus zu verwandeln.
Doch neben dem Bild einer Nation aus lauter autonomen Einzelkämpfern hielten sich immer noch die älteren Ideale von Gemeinschaft und Solidarität. Diese tauchten in der Großen Depression wieder auf, um zur Grundlage der Sozialdemokratie der Jahrhundertmitte zu werden, so begrenzt und unvollkommen sie auch war. In den letzten vier Jahrzehnten ist das autonome, strebsame Selbst wieder in den Mittelpunkt der Erfolgsethik gerückt, allerdings als Teil eines neuen Narrativs, das sich nun weniger auf fleißige Knochenarbeit und mehr auf Talent, Köpfchen und ausgewiesene Expertise stützt.