Heft 863, April 2021

Orthodoxie der Eliten

von Jackson Lears

Die Demokratie ist in der Krise, und alle suchen nach einem Schuldigen. Donald Trumps groteske Regierungsunfähigkeit hat ihn zum Buhmann werden lassen, aber die Probleme der Demokratie sind vertrackter, umfassender, und sie liegen tiefer. Ein Text, der einen Monat nach Trumps Wahl 2016 auf der liberalen Website Daily Kos veröffentlicht wurde, lässt die ganze Komplexität erahnen: »Freut euch für die Bergarbeiter, die ihre Krankenversicherung verlieren«, schmetterte die Überschrift. »Sie kriegen genau das, was sie gewählt haben.«

Das ist ein schroffer, kaltschnäuziger Affront: Offensichtlich brachte Trumps Sieg einige seiner Gegner dazu, seinen Anhängern mit doppelter Feindseligkeit entgegenzutreten. Doch zeigt der Blog-Beitrag auch allgemeiner, dass ein liberaler Demokrat zu sein nicht mehr das bedeutet, was es einmal bedeutete. Die Sympathie für die Arbeiterklasse ist bei vielen in Verachtung umgeschlagen. Das Konzept der »liberalen Demokratie«, einst voller Versprechen, war schon vor 2016 zu einer neoliberalen Politik verkommen, die weder liberal noch demokratisch war. Die Hinwendung der Demokratischen Partei zu einer marktorientierten Politik, die von beiden politischen Lagern vorangetriebene Demontage der öffentlichen Sphäre, die in luftigen Höhen, im Cockpit der Globalisierung, geschlossene Ehe von Wall Street und Silicon Valley – aus derlei Maßnahmen bestand die Augenwischerei der neoliberalen Agenda, die einer kleinen Minderheit von Amerikanern zu Reichtum verhalf, während sie die Mehrheit der übrigen Menschen in den Ruin trieb.

Auch 2020 unternahmen die Demokraten kaum Versuche, sich von diesem verhängnisvollen Erbe zu lösen. Schon 2019 gab Joe Biden persönlich den Vermögenden zu verstehen, dass sich mit seiner Wahl »nichts grundlegend ändern« würde, und beschwichtigte den sogenannten medizinisch-industriellen Komplex, indem er jede Debatte über eine staatliche Gesundheitsversorgung von vornherein ausschloss. Doch er machte keinen nennenswerten Anlauf, auf die Millionen von Amerikanern zuzugehen, die in den letzten Monaten ihren Arbeitsplatz, ihr Zuhause oder ihre Gesundheitsversorgung verloren hatten. Wer seinen Wahlkampf verfolgte, wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass die USA vor der schwersten und langwierigsten wirtschaftlichen Depression seit den 1930er Jahren standen. Daher sollte es nicht überraschen, dass Trump seinen Rückhalt unter ländlichen und weniger gebildeten Wählern aufrechterhalten und ihn unter Afroamerikanern und Latinos sogar ausbauen konnte.

Bei aller Scharlatanerie der Trump-Regierung spürten wohl viele Durchschnittsamerikaner eine Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar offene Feindseligkeit, die ihnen von Trumps demokratischen Gegnern entgegenschlug. Und sie lagen damit nicht falsch. Die Parteiführung der Demokraten hat sich von ihrer historischen Basis entfremdet.

Dass Linksliberale sich einen Spaß daraus machen, unverhohlen Bergarbeiter zu verhöhnen, offenbart seismische Veränderungen im allgemeineren öffentlichen Diskurs. Die Bergarbeiter bekamen »genau das, wofür sie gestimmt haben« – mit anderen Worten, genau das, was sie verdient haben. Der Glaube, dass Menschen stets bekommen, was sie verdienen, ist in der säkularen individualistischen Weltanschauung tief verwurzelt. In den Vereinigten Staaten dient diese Weltsicht seit Jahrhunderten der Rechtfertigung von Ungleichheit, seit die protestantische Arbeitsethik begann, sich in den Geist des Kapitalismus zu verwandeln.

Doch neben dem Bild einer Nation aus lauter autonomen Einzelkämpfern hielten sich immer noch die älteren Ideale von Gemeinschaft und Solidarität. Diese tauchten in der Großen Depression wieder auf, um zur Grundlage der Sozialdemokratie der Jahrhundertmitte zu werden, so begrenzt und unvollkommen sie auch war. In den letzten vier Jahrzehnten ist das autonome, strebsame Selbst wieder in den Mittelpunkt der Erfolgsethik gerückt, allerdings als Teil eines neuen Narrativs, das sich nun weniger auf fleißige Knochenarbeit und mehr auf Talent, Köpfchen und ausgewiesene Expertise stützt.

Glaube an die Meritokratie

Diese neue Sichtweise bedient sich zwar einer technokratischen Sprache, doch fehlt es ihr nicht an moralischem Glanz. Die neoliberale Meritokratie erweist sich als perfekt mit der Identitätspolitik vereinbar; die Partei von Clinton, Obama und Biden ist auf häufige rhetorische Bekenntnisse zu Frauen und Minderheiten als entscheidende Quelle der Legitimität sogar angewiesen.

In Bezug auf die politische Führung lassen sich die historischen Vorläufer des meritokratischen Ideals bis zu Franklin Roosevelts »Brain Trust« zurückverfolgen. Die akademischen Berater kamen entgegen ihres Rufs als »Columbia-Clique« nicht nur von privaten, sondern auch von öffentlichen Universitäten und aus verschiedenen Regionen des Landes. John F. Kennedy veredelte das meritokratische Prinzip, indem er seine Berater, die sich vielleicht tatsächlich für »die Besten und Klügsten« hielten, aus den elitären Ivy-League-Universitäten rekrutierte. Doch dieser Ausdruck war von David Halberstam ironisch gebraucht worden, und die Ironie vertiefte sich noch, als Halberstams Buch The Best and the Brightest (1972) belegte, dass ausgerechnet hochgebildete Männer für die Katastrophe des Vietnamkriegs verantwortlich waren. Doch trotz Halberstams vernichtender Anklage griffen die politischen Entscheidungsträger der Nach-Vietnam-Ära immer mehr auf meritokratische Kriterien als Mittel zur Organisation einer ganzen Gesellschaft zurück.

Niemand kann leugnen, dass es echte Experten braucht, die sich mit Fragen der öffentlichen Politik befassen – zum Beispiel gutinformierte Epidemiologen während einer Pandemie. Aber wenn Meriten, die man sich erwirbt, zu einer Meritokratie institutionalisiert werden, kommt dabei eine Ideologie heraus, die ihre Befürworter in dem Gefühl bestärkt, sie seien berechtigt, das ganze Land zu regieren, vielleicht sogar die Welt. Die gegenwärtige meritokratische Ideologie behauptet noch etwas anderes: dass fast alle gesellschaftlichen Güter abhängig von Leistung verteilt werden können, die von den Meritokraten zuvor als technokratische, also Management-Expertise definiert wurde; eine Expertise, die wiederum stark von elitären akademischen Qualifikationen abhängig gemacht wird.

Diese Vorannahmen sind schon deshalb problematisch, weil die vermeintlich meritokratischen Verfahrensweisen keineswegs garantieren, dass es sich um anderes als schiere Klassenprivilegien handelt. Die Zahlen der Zulassungen zu den Ivy-League-Universitäten machen das jedes Jahr aufs Neue deutlich. Doch in einer Marktgesellschaft, in der Geld und Leistung eng miteinander verbunden sind, würde selbst eine faire Meritokratie implizit bestätigen, dass die Reichen reich sind, weil sie es verdient haben, und dass die Armen niemandem außer sich selbst die Schuld an ihrer Misere geben können. In seinem 2020 erschienenen Buch The Tyranny of Merit betont Michael Sandel, dass die zersetzende Wirkung, die diese Überzeugung auf die Demokratie hat, kaum überschätzt werden kann. Durch die Aufspaltung der Bevölkerung in Gewinner und Verlierer, in Kluge und Dumme, fördert der meritokratische Mythos Selbstüberschätzung auf der einen Seite und Demütigung und Ressentiments auf der anderen.

Jeder vollständige Begriff von Demokratie beinhaltet eine lebhafte, informierte Debatte darüber, was das Gemeinwohl sein soll und wie es gefördert werden kann. Doch das Zusammentreffen der meritokratischen Betonung des individuellen Leistungsstrebens mit den Überbleibseln der altehrwürdigen Arbeitsethik hat jede Vorstellung von Gemeinwohl ausgehöhlt. Selbst während einer Pandemie gibt es nur eine diffuse Vorstellung davon, was es bedeuten könnte, dass wir alle in einem Boot sitzen. Das öffentliche Interesse wird weiterhin als die Summe unzähliger privater Interessen definiert. Da die meritokratische Definition von »klug« außerdem dazu tendiert, sich auf technische Problemlösungen zu fokussieren, lässt das meritokratische Denken die Sprache des Regierens verarmen – und reduziert den öffentlichen Diskurs auf fade, technokratische Fachsimpelei.

Seit den 1990er Jahren sorgten die Befürworter der Globalisierung auf beiden Seiten des Atlantiks dafür, dass die Navigation im politischen Diskurs noch schwieriger wurde. Sie verkündeten, dass »in den wohlhabenden Ländern die neuen Gräben nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen offen und geschlossen« verlaufen, wie es der Economist ausdrückte. »Immigranten willkommen heißen oder sie draußen halten? Den Außenhandel öffnen oder heimische Industriezweige schützen? Dem kulturellen Wandel offen entgegengehen oder sich dagegen sträuben?« Diese Fragestellungen machten von vornherein deutlich, welche als die aufgeklärtere Wahlmöglichkeit zu gelten habe. Elitäre Vordenker von Tony Blair über Fareed Zakaria bis Paul Krugman vertraten verschiedene Versionen dieser Aufklärung.

Die Gegenüberstellung von »offen« und »geschlossen« macht einen Gegensatz auf zwischen den provinziellen Verlierern im Hinterland, gelähmt durch engstirniges Misstrauen gegenüber multikultureller Vielfalt, und den aufgeschlossenen kosmopolitischen Gewinnern – geografisch und sozial mobilen Verfechtern der offenen Grenzen. Diejenigen, die von der Globalisierung abgehängt wurden und die Gründe hätten, den Nutzen von frei fließendem Kapital infrage zu stellen, können auf diese Weise einfach als Fanatiker oder Versager abgetan werden. Ein komplexes Thema, das eine demokratische Debatte verdient, wird auf ein Tugendtheater heruntergebrochen.

Letztendlich verschmilzt die Meritokratie mit einer providentialistischen Auffassung, die sogar weiter geht als jene, die im 19. Jahrhundert die Ungleichheiten rechtfertigen musste. Die Gewinner haben es nicht nur verdient zu gewinnen, sie stehen außerdem auf der »richtigen Seite der Geschichte«. Der Glaube an den unausweichlichen Fortschritt steigert die erneute Popularität von Joseph Schumpeters Begriff der »schöpferischen Zerstörung« – all die geschlossenen Fabriken, die verlorenen Arbeitsplätze, die verödeten Gemeinden seien nur der vorübergehende Preis, den die Arbeiterklasse für unternehmerische Innovationen zu zahlen habe, die schließlich größeren Reichtum für alle bringen werden. Der Markt ist im siebten Himmel, und die Welt ist in Ordnung.

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