Heft 843, August 2019

Pain Killer

Über die Opioid-Krise in Nordamerika von Emily Witt

Über die Opioid-Krise in Nordamerika

1996 brachte ein Unternehmen namens Purdue Pharmaceutical ein neues opioides Schmerzmittel namens Oxycontin heraus. Bei einem Festakt, der die Markteinführung begleitete, prophezeite Richard Sackler, ein Spross der Besitzerfamilie von Purdue und zugleich Senior Vice President of Sales, dem Medikament einen spektakulären Aufstieg. »Die Einführung von Oxycontin wird einen Blizzard von Verschreibungen auslösen, der unsere Konkurrenz unter sich begraben wird«, sagte Sackler laut einer kürzlich gegen Purdue eingereichten Klage. »Der Verschreibungsblizzard wird stark, dicht und weiß sein …«

Der Wirkstoff in Oxycontin ist Oxycodon, ein halbsynthetisches Opiat (ein »Opioid»), das erstmals 1916 in Deutschland synthetisiert wurde. Vor dem Start von Oxycontin wurde Oxycodon jahrelang als Schmerzmittel in verschiedenen Tabletten vermarktet, unter anderem als Percocet (mit Paracetamol gemischt), Percodan (mit Aspirin gemischt) und Roxycodon (rein, in Dosen von 15 bis 30 Milligramm). Andere Opiat-Schmerzmittel, wie das hydrocodonbasierte Vicodin, wurden ebenfalls mit Aspirin oder Paracetamol gemischt und niedrigdosiert vertrieben. Diese Pillen machten süchtig, aber ihr geringer Opiat-Gehalt minderte die Gefahr einer Überdosierung. Wenn die Medikamente über lange Zeit eingenommen wurden, schädigten das Paracetamol und das Aspirin die Leber.

Oxycontin unterschied sich von den genannten Medikamenten. Für einen chemischen Mechanismus, der die Freisetzung des opioiden Wirkstoffs verlangsamt, erhielt es ein Patent: daher das »Contin« in Oxycontin. Purdue entwickelte Oxycontin nicht angesichts eines dringenden gesundheitlichen Bedarfs in der Bevölkerung, sondern weil der Patentschutz für sein rentabelstes Medikament auslief, eine Morphinpille mit zeitverzögerter Wirkung namens MS Contin. In den meisten Ländern gelten pharmazeutische Patente zwanzig Jahre. Sie ermöglichen es den Herstellern, ein Monopol auf ihre Rezeptur zu wahren und den Wettbewerb mit den Herstellern von Generika zu unterbinden. Wenn ein Patent auf ein beliebtes Medikament ausläuft, fällt sein Preis mitunter um 90 Prozent. Um ihre Monopolstellung zu behalten, nehmen Hersteller häufig geringe Anpassungen an bestehenden Medikamenten vor, um sie neu patentieren und vermarkten zu können. Oxycontin war ein solches Nachfolgemedikament.

»Mir ist warm, und ich fühle mich absolut wohl«

Oxycontin löst sich allmählich im Verdauungssystem auf und gibt das Oxycodon langsam in den Körper ab. Anstatt alle paar Stunden ein herkömmliches Schmerzmittel wie Vicodin oder Percocet einzunehmen, sollten Patienten nach Herstellerangaben eine dauerhafte Schmerzlinderung schon dadurch erfahren, dass sie morgens und abends jeweils eine Oxycontin-Tablette einnahmen. Die langsame Entfaltung des Wirkstoffs rechtfertigte die Herstellung von Pillen, die Oxycodon in viel höherer Einzeldosis enthielten als je ein Medikament zuvor: zunächst bis zu 80, einige Jahre später bis zu 160 Milligramm.

»Es war die reinste Droge, der ich je begegnet bin«, schreibt die Künstlerin Nan Goldin in einer Kolumne für Artforum, die ihrer Oxycontin-Sucht gewidmet ist. Goldin bekam das Medikament nach einer Operation. 40 Milligramm habe sie eingenommen, schreibt sie, und sei davon »über Nacht« süchtig geworden. Im Lauf der Zeit steigerte sie ihre Tagesdosis von drei auf achtzehn Tabletten. Auf die Gefühle, die von Morphinderivaten hervorgerufen werden, spricht nicht jeder gleich an. Für Leute, die seine Wirkung mögen, scheint Oxycontin das Höchste zu sein. »Oxycodon bietet das beste High, das ich in meiner langen Karriere als Drogenkonsument je erlebt habe«, beginnt ein Bericht von »RighteousDopeFiend« auf der Online-Drogenenzyklopädie Erowid. Unter Pseudonym beschreibt der Autor, wie es sich anfühlt, wenn er eine 80-Milligramm-Oxycontin-Tablette geschnupft hat: »Die Oxycodon-Erfahrung ist jemandem, der noch nie Opiate genommen hat, schwer zu vermitteln. Ich persönlich habe das Gefühl, plötzlich alles zu besitzen, was ich mir im Leben wünsche, und vor nichts mehr Angst haben zu müssen. Ich bin geistig und emotional völlig mit mir im Reinen. Alle Anspannung löst sich aus meinem Körper, mir ist warm, und ich fühle mich absolut wohl, so als würde ich neben einem lodernden Feuer sitzen, eingehüllt in eine weiche Kaschmirdecke, sanft vor mich hin schaukelnd. Kommunikation ist angenehm, aber nicht nötig. Wer Oxycodon nimmt, braucht keine Mitmenschen. Ich akzeptiere mich und die Welt, wie wir sind, ohne Widerwillen, völlig zustimmend, beinahe ekstatisch.«

Seit Oxycontin 1996 auf den amerikanischen Markt kam, starben in den USA mehr als 400 000 Menschen an den Folgen ihres Opiat-Konsums. Seit 2008 übertrifft die Zahl der Drogentoten jene der Verkehrstoten, Überdosierung ist zur häufigsten nicht natürlichen Todesursache geworden. 2017 starben mehr als 49 000 Amerikaner an einer Opioid-Überdosis. Diese Epidemie hat eine Geschichte, die anhand dreier Wellen molekular sich ähnelnder Substanzen erzählt werden kann: Zuerst kamen Oxycontin und andere verschreibungspflichtige Medikamente; dann Heroin; und jetzt, besonders seit 2016, ein Opioid namens Fentanyl, das in kleineren Mengen stärker wirkt und daher leichter zu schmuggeln ist, aber auch schneller zum Tod führt. Ein ganzes Genre journalistischer Texte hat sich herausgebildet, das von überfüllten Leichenhallen im Rust Belt handelt; von Eltern, die sich während der Baseballspiele ihrer Kinder eine Überdosis geben; von ehemals sicheren Landstrichen, die von kriminellen Junkies übernommen wurden; von Open-Air-Heroinmärkten in städtischen Obdachlosenlagern; von Bibliothekaren und Starbucks-Mitarbeitern, die gelernt haben, überdosierte Kunden mit Naloxon wiederzubeleben.

Das entsetzliche Video eines Kleinkinds, das in einem Supermarkt am bewusstlosen Körper seiner Mutter zerrt, lässt den Abgrund der Korruption und Gier, der Armut und Dummheit erahnen, der dieses Problem verursacht hat. Wie es dazu kommen konnte, dass die Zahl der Todesfälle durch Opiat-Missbrauch in den USA zwischen 1999 und 2017 um das Sechsfache stieg, ist Thema mehrerer gerade erschienener Bücher. Dopesick von Beth Macy beschreibt die Auswirkungen des Opiat-Konsums in der Region Appalachia, in der sie als Lokalreporterin arbeitete. Dreamland von Sam Quinones handelt vom Aufstieg eines Dealerkartells für »Schwarzen Teer«, eine unreine, häufig in Mexiko hergestellte Sorte Heroin, und von seinen Auswirkungen auf eine Stadt in Ohio. American Overdose von Chris McGreal, einem Korrespondenten des Guardian, untersucht die Korruption, die es möglich machte, dass Opiate sich an allen Kontrollen des Staates, der Gesundheits- und Strafverfolgungsbehörden vorbei derart verbreiten konnten.1

In jedem dieser Bücher finden sich Kapitel über Oxycontin. Der bedauerliche Erfolg dieses sogenannten Blockbuster-Medikaments lässt sich auf das Zusammenspiel mehrerer spezifisch US-amerikanischer Faktoren zurückführen: ein dysfunktionales privatisiertes Gesundheitssystem, in dem Abhängige in einem Umfang an Schmerzmittelverschreibungen gelangen, wie es beispielsweise in Großbritannien unvorstellbar wäre; eine korrupte Regulierungsbehörde, die der Pharmabranche, über die sie wachen soll, ergeben ist; ein repressives Strafrecht, das Drogenabhängige kriminalisiert, anstatt ihnen zu helfen; ein drogentherapeutischer Ansatz, der ausschließlich auf Abstinenz beruht und evidenzbasierte Ersatzbehandlungen ablehnt; unternehmerische Gier; eine politische Klasse, die der Pharmalobby aus der Hand frisst; tief verwurzelte Armut, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit – und dazu ein allgemeines kognitives Versagen, wenn es darum geht, zu verstehen, was »Drogen« eigentlich sind, welche psychoaktiven Substanzen sicher sind und welche nicht und wie ein »Drogendealer« aussieht. All diese Faktoren trugen dazu bei, dass um die Jahrtausendwende Hunderte Millionen hochpotenter Pillen in die Welt gelangten, die einem Massenmarkt für Heroin den Weg bereiteten. Hunderttausende ließen ihr Leben, jeder von ihnen eine Welt.

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