Heft 881, Oktober 2022

Paranoia, Ressentiment und Re-Enactment

Der russische politische Diskurs über den Ukraine-Krieg von Riccardo Nicolosi

Der russische politische Diskurs über den Ukraine-Krieg

Opuskanie

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, warum die Russische Föderation am 24. Februar 2022 einen großangelegten, für die meisten Beobachter überraschenden Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, brachte die russische Autorin Maria Stepanova Anfang März die These ins Spiel, es könnte sich dabei um eine Art opuskanie handeln.1 Der Begriff, der sich im Deutschen ungefähr mit »Herabsetzung« wiedergeben lässt, bezeichnet im Jargon des russischen Gefängnisses die Praxis der Gruppenvergewaltigung eines Insassen durch seine Zellennachbarn. Bestraft wegen einer Verletzung des Verhaltenskodex, sinkt der Vergewaltigte nach diesem Ritual in die unterste Kaste der strengen Gefängnishierarchie herab und wird wie ein »Unberührbarer« behandelt: Er muss niedere Arbeiten verrichten, in der Nähe der Latrine schlafen, kann jederzeit sexuell missbraucht werden, wobei soziale Kontakte ihm nur mit anderen »Herabgesetzten« erlaubt sind.

Stepanova verortet den Krieg somit im Bereich des Symbolischen und interpretiert ihn als öffentliche Demütigung und Bestrafung der Ukrainerinnen und Ukrainer für die Maidan-Ereignisse von 2014, als sie den russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch vom Hof jagten und sich Richtung Westen orientierten, anstatt mit Russland zu kooperieren. Die Entwicklung der militärischen Operationen zu einem erbarmungslos geführten Vernichtungskrieg, die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha und in anderen Orten der Ukraine scheinen Stepanovas Vermutung zu bestätigen. Dieser in der Logik der aktuellen Weltpolitik nicht restlos begreifliche Krieg, so Stepanova Mitte März, wirke wie das Produkt einer kranken, zerstörerischen Einbildungskraft.2 Wie eine irrationale Monstrosität offenbart er die wahre Natur Wladimir Putins: die eines von »absoluter Macht, imperialer Aggressivität und Gehässigkeit« berauschten »Ungeheuers« – so ein anderer prominenter Vertreter der zeitgenössischen russischen Literatur, Wladimir Sorokin.3

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