Heft 850, März 2020

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Die Türsteher Europas in Afrika von Thomas Meaney

Die Türsteher Europas in Afrika

Die Sahara ist einer der wenigen Orte auf der Erde, deren Eroberung bislang schon daran scheiterte, dass niemand leichtsinnig genug war, es überhaupt zu versuchen. Es hat jedoch im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Bestrebungen gegeben, sie zu regieren. In Ghat, einer der letzten libyschen Städte im Fessan, bevor die Wüste die Oberhand gewinnt, stößt man auf die Überreste der Bemühungen, dem Land eine Ordnung aufzuzwingen: Beduinenpfade aus dem Mittelalter; eine von den Osmanen begonnene und von italienischen Faschisten fertiggestellte Festung, die auf die ausgehöhlten Ruinen einer Medina blickt. Die Händler, Milizen, Verkäufer und Touristenführer hier vertreten die verschiedensten Ansichten über das wiedererwachte Interesse Europas an ihrer Region. Einige sehen darin das Versprechen auf bessere Lebensverhältnisse: Sie hoffen auf ihren Anteil an der enormen Geldsumme, die die EU jetzt nach Nordafrika pumpt, oder zumindest darauf, die Verluste auszugleichen, die sich infolge der Zerstörung von Gaddafis Distributionsnetzwerken durch die Nato ergaben. (Als Gaddafis Sohn 2017 aus dem Gefängnis entlassen wurde, feierten das die Bürger von Ghat auf den Straßen mit Gewehrsalven.) Für andere sind die neuen elektrischen Zäune, die biometrischen Scan-Stationen, die militärischen Außenposten und eine wachsende Zahl europäischer Soldaten Zeichen dafür, dass die empfindlichen Kreisläufe von Beziehungen und Handel gestört werden. In einem behelfsmäßigen Café in einer Tankstelle am Rand von Ghat traf ich einen Tuareg, der mit einer örtlichen Miliz in Verbindung steht. »Sie werden müde, sie wollen einfach nur noch weg«, sagte er über die europäischen Streitkräfte, als sei ihre Ankunft eher ein Ärgernis als ein Paradigmenwechsel.

Seit dem Beginn der libyschen und syrischen Bürgerkriege im Jahr 2011 hat die europäische Politik gegenüber Nordafrika einen höheren Gang eingelegt. In Agadez, einer alten Handelsstadt im Herzen von Niger, stehen Hunderte beschlagnahmter weißer Pickup-Trucks auf einem Militärstützpunkt. Sie gehörten Männern, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, ihre westafrikanischen Landsleute über Niger und durch die Sahara nach Libyen zu transportieren, die nun aber, wenn sie nicht gerade im Gefängnis sitzen, als Unternehmer einer weitgehend nicht existenten Start-up-Szene durchzugehen versuchen. An der Grenze zwischen Niger und Mali, mehr als zweihundert Meilen weiter westlich, wurden mit EU- und UN-Mitteln provisorische Dörfer für diejenigen gebaut, die vor der unsicheren Situation in Mali fliehen, die wiederum eine Folge der Nato-Intervention in Libyen ist. Frauen und Männer stehen Schlange für das maschinelle Abspeichern ihrer Fingerabdrücke, damit der Staat den Überblick behält – das Scannen ist erforderlich, wenn man eine Unterkunft angeboten bekommen will. In Niamey, der Hauptstadt Nigers, werden Asylanträge durch französische Experten und Spezialisten der UN geprüft, mehrere tausend Meilen von der französischen Küste entfernt, wobei nur diejenigen, deren Anträge am Plausibelsten wirken, weiterreisen dürfen. Es ist die Art der Offshore-Bearbeitung, für die britische Grenztruppen wohl nur Neid übrighaben.

Die Aufklärungsdrohnen, Grenzzäune und Scan-Stationen in der Sahara und der Sahelzone sind nur ein Teil der wachsenden Zahl neuer Technologien und Strategien, die von humanitären Organisationen, Unternehmen und den Militärs Europas entwickelt wurden, um die Afrikaner und ihre Waren dort zu halten, wo sie sind, oder sie dorthin zurückzubringen, wo sie herkommen. Seit 2011 hat eine UN-Operation namens MINUSMA – Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali – mehr als 12 500 Soldaten nach Nordafrika entsandt. Französische Soldaten, die an der Operation »Barkhane« beteiligt sind, MINUSMAs Ableger für Aufstandsbekämpfung, wurden ursprünglich entsandt, um das Chaos in Zentralmali zu beseitigen, aber ihr Mandat wurde inzwischen erweitert, und sie führen nun gegen Migranten gerichtete Patrouillen durch. Mittlerweile erfreuen sich multilaterale Operationen wachsender Zustimmung unter den europäischen Staaten, wie zum Beispiel die Capacity Building Mission der EU in Niger, die von einem ehemaligen Hauptkommissar der belgischen Polizei geleitet wird. Wenn es um ihren eigenen Kontinent geht, mag es ihnen in vielen Fragen schwerfallen, eine Einigung zu erzielen, aber auf nordafrikanischem Gebiet ist die Zusammenarbeit innerhalb der EU offenbar gar kein Problem. Im vergangenen Jahr stimmte das italienische Parlament dafür, ein Bataillon aus dem Nahen Osten nach Niger zu verlegen; Deutschland hat eintausend Soldaten nach Westafrika geschickt, die Bundeswehr betreibt jetzt ein Militärlager in Niamey.

Die schmutzigere Arbeit

Die schmutzigere Arbeit überlässt man aber immer noch den Verbündeten vor Ort. Im Sudan wurden die Dschandschawid-Veteranen des Darfur-Konflikts kurzerhand zu der Regierung unterstehenden »Rapid Support Forces« umdeklariert. Während der gegen das Regime gerichteten Proteste in Khartum im Juni 2019 sollen die RSF mindestens siebzig Frauen vergewaltigt und mehr als hundert Menschen getötet haben, wobei sie einige der Leichen im Nil entsorgten. Sudans mächtigste militärische Figur, Generalleutnant Mohammed Hamdan, bekannt als Hemeti, hat die RSF in den letzten Jahren zu einem lukrativen Geschäft ausgebaut, das alle Vorteile der europäischen Unterstützung genießt. Dem Vernehmen nach war es das erklärte Ziel, zweimal bezahlt zu werden: ein erstes Mal, indem gefangene Migranten nach Khartum gebracht werden, um der EU zu signalisieren, dass der Sudan es ernst meint mit der Unterbindung des Migrationsflusses, und ein zweites Mal, indem von einigen Flüchtlingen Bestechungsgelder eingefordert und andere als Arbeitskräfte auf von der RSF kontrollierten Baustellen eingesetzt werden, bevor sie gegen eine Gebühr nach Libyen zurücktransportiert werden. Europäische Beamte haben wiederholt bestritten, dass irgendetwas aus dem 100 Millionen Euro schweren »Migrationshilfspaket« für den Sudan direkt an die RSF geht, doch einer ihrer Kommandeure, Abbas Abdulaziz, beklagte sich kürzlich im deutschen Fernsehen darüber, dass seine Arbeit von den europäischen Staaten nicht hinreichend finanziert werde – was nicht dasselbe ist, wie überhaupt nicht finanziert zu werden.

Die Militarisierung großer Teile Nordafrikas ist eine Goldgrube für die globale Security-Branche. Auf Waffenmessen in ganz Europa werden die jüngsten Antimigrationsneuheiten angeboten: ein bulgarisches Wärmesuchgerät, das Migranten aufspürt, bevor sie zu nahe kommen; eine von Motorola entworfene Drohne für »humanitäre« Einsätze sowie ein wetterfester Netzhautscanner. Eine fünf Meter hohe Barriere, die mit Mitteln der US-amerikanischen Defence Threat Reduction Agency und der Bundeswehr errichtet wurde, erstreckt sich nun über 168 Kilometer entlang der libysch-tunesischen Grenze; Airbus hat die tunesischen Grenztruppen mit Bodenüberwachungsradar und Nachtsichtgeräten ausgestattet, die an den Zielfernrohren automatischer Waffen befestigt werden können. Ein in Deutschland entwickeltes System zur exakten Altersbestimmung von Asylbewerbern mittels Röntgenstrahlen wurde vor kurzem von der Bundesärztekammer abgelehnt, weshalb die Bundesregierung zur Verfolgung des gleichen Ziels stattdessen in Ultraschalltechnologie investierte. Als hätte er all jenen die Augen öffnen wollen, die glaubten, die Sicherheits- und die Entwicklungspolitik der EU seien zwei völlig getrennte Bereiche, hat sich einer von Merkels ehemaligen Ministern für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt einen Posten als Rüstungslobbyist für Rheinmetall, einen der größten europäischen Rüstungskonzerne, ergattert.

Türsteher Europas

Europäische Politiker sind überzeugt, dass das Überleben des europäischen Projekts von der Einhegung afrikanischer Mobilität und Fortpflanzung abhängt. Es ist kaum nötig, den Blick ins politisch rechte Lager zu wenden, um Anzeichen für diese Furcht zu finden, wo sie doch auch den angeblich zentristischen Staatsoberhäuptern des Kontinents so leicht über die Lippen kommt. Emmanuel Macron hat einen »erfolgreichen demografischen Übergang« für Länder gefordert, »in denen heute sieben oder acht Kinder auf eine Frau kommen«, und sein neuer landesweiter Fragebogen enthält die Leitfrage: »Befürworten Sie die Einführung jährlicher Einwanderungsquoten, die vom Parlament festgelegt werden?« Jean-Claude Juncker ist seinen osteuropäischen Kritikern widerwillig entgegengekommen: »Natürlich greifen wir beim Thema afrikanische Länder und Migration zu Zuckerbrot und Peitsche«. »Wir streben die Zusammenarbeit an, um die Menschen davon abzuhalten, überhaupt erst unkontrolliert auszureisen«, sagte ein anderer EU-Beamter vor kurzem auf einer Reise durch nordafrikanische Staaten. Und nicht nur einer der europäischen Botschafter in Niger hat die Sahelzone als »die Südgrenze der EU« bezeichnet.

2017 reaktivierte Marco Minniti, dessen Amtsbereich als italienischer Innenminister bezeichnenderweise auch Libyen umfasst, den Migrationspakt, den Gaddafi kurz vor seinem Tod mit Italien geschlossen hatte. Die EU pumpte 135 Millionen Euro aus ihrem Treuhandfonds für Afrika nach Libyen, um die libysche Küstenwache und jene Abteilung zur Bekämpfung illegaler Migration zu stärken, die lokale Milizen mit der Aufsicht über Gefangenenlager betraut, in denen Folter an der Tagesordnung ist. Bei einem Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der EU in Kairo musste sich Abd al-Fattah as-Sisi für die Rolle des jüngsten hochbezahlten Türstehers Europas nicht groß bewerben. »Es sei daran erinnert, dass die ägyptischen Behörden den Kampf gegen Schmuggel und Menschenhandel zu ihrer Priorität gemacht haben«, erklärte Donald Tusk. »Daher gab es in diesem Jahr keine irregulären Ausreisen aus Ägypten nach Europa.« Für Brüssel scheint Sisis zunehmender Autoritarismus ein geringer Preis für seine perfekte Bilanz bei der polizeilichen Überwachung der Migration zu sein, zumal in dem Land vor allem unter der Jugend die Arbeitslosigkeit um sich greift. Wie der niederländische Präsident Mark Rutte in Kairo sagte, »muss man manchmal einfach mit dem tanzen, der gerade auf der Tanzfläche steht«.

Einige Tanzpartner, wie zum Beispiel Niger, führen die erforderlichen Schritte mit vorauseilendem Gehorsam aus. Auf dem Migrationsgipfel in Valletta 2015 – der ersten großen Konferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs nach dem Beginn der sogenannten Migrationskrise – stellte Nigers Präsident Mahamadou Issoufou ein Maßnahmenpaket vor, das Flüchtlinge aus Niger von Europa fernhalten soll. Der Plan war von einer Gruppe europäischer Berater entworfen worden, die er im Rahmen einer Kampagne zur Gewinnung neuer Einkommensformen für sein Land eingestellt hatte, das zu den ärmsten in Afrika zählt. Seitdem ist Niger zum bevorzugten Testgebiet für europäische Anti-Migrationsexperimente geworden. Als Gegenleistung für die Verabschiedung eines Gesetzes im Jahr 2016, das den »Schmuggel« – der seit Jahren im Wüstenhinterland von Niger stattfindet – verbietet, belohnte die EU und insbesondere Deutschland Niamey mit mehr als einer Milliarde Euro an Investitionen in die »Sicherheit« des Landes. Die nigrische Regierung setzt darauf, dass der Segen der »internationalen Gemeinschaft« eine sicherere Quelle politischer Legitimität ist als die gesellschaftliche Gewinnverteilung von natürlichen Ressourcen. Die französischen Premierminister statteten dem Niger damals, als sie ihn regierten, nur selten einen Besuch ab; um ihre produktive neue »Partnerschaft« zu feiern, hat Merkel die Reise in den letzten fünf Jahren bereits zweimal unternommen.