Polyvalenz des Politischen
Zur Neuvermessung des Demokratischen von Birger P. PriddatZur Neuvermessung des Demokratischen
Die Demokratie ist zum Gegenstand der Kritik geworden. Philip Manow spricht von der »Ent-Demokratisierung der Demokratie«,1 Veith Selk von einer »Demokratiedämmerung.2 Andere hingegen halten dafür, die Demokratie aktiv zu gestalten.3 Doch erweist es sich als schwaches Argument, wenn man die Demokratie als liberales Wertesystem verteidigt, ohne darüber zu reflektieren, dass die Formen des Demokratischen, die wir haben, bereits in eine Änderungsdynamik eingewoben sind. Selbst der erstarkende Rechtspopulismus, der im Kern rechtsradikale Elemente mit sich führt, ist ein politisches Phänomen, das innerhalb des gewohnten demokratischen Verfahrens stattfindet. Wir empfinden diesen Prozess als Gefährdung des Demokratischen, ohne aber wirklich in Rechnung zu stellen, dass die Demokratie, wie Richard Rorty bereits 1988 befürchtete, ein temporäres, kontingentes Phänomen darstellen könnte.4
Rorty erinnert an das antike Modell, in dem der Wechsel der Verfassungen eine Antwort auf die politische Instabilität darstellte. Der Wechsel, den wir heute zu befürchten haben, wäre ein Wechsel von der Demokratie zu einer anderen Herrschaftsform: in eine oligarchische Verfassung (wie es sich in den USA andeutet), in eine aristokratische (Expertokratie) oder in eine Diktatur (Tyrannis). Ein Wechsel der Herrschaftsform kann selbst unter Beibehaltung einer demokratischen Verfassungsform stattfinden, und zwar in den institutionellen Infrastrukturen der Demokratie: Einschränkung der Presse- und Medienfreiheit, Demontage der Opposition, Umbau und Personalaustausch in der Justiz, der Kultur, auch der Bildung etc.5 In die formelle Beibehaltung der Demokratie schieben sich Institutionenumbauten, die demokratische Kontrollen aussetzen. Die beschworene balance of power wandelt sich in asymmetrische Herrschaftsinstanzen (wie in der Türkei, in Ungarn, tendenziell in Italien, in Polen ist dieser Prozess abgebrochen worden, in den USA beginnt er jetzt gerade; auch die AfD wird in diese Umbruchszenarien einzufügen sein).
Neue Eliten oder neue Agora?
Aristoteles hält nichts von der alleinigen Herrschaft des demos (der Armen beziehungsweise derer, die durch ihre Arbeit leben müssen); er präferiert die politie; nur eine Mischverfassung aus Demokratie und Oligarchie könne die Eintracht (homonoia) sichern. Der Grundgedanke ist eher von der Art der Sozialen Marktwirtschaft: dass die Reichen die Armen mitfinanzieren (über die Tugend der Freigiebigkeit, auch der Liturgien). Zur Mischung aber gehört, dass die Armen die Reichen legitimieren; Arm und Reich teilen sich die Selbstbestimmung. Aristoteles denkt eine politische Ökonomie, in der alle ihre Gemeinsamkeit (politike koinonia) pflegen, in der Interessengegensätze nichtantagonistisch ausdiskutiert werden – über die Rhetorik der Versammlung in der agora und über die Bildung (paidaia) der Bürger. Es ist eine politische Philosophie, der wir Hypermodernen in aufgeklärter Gestimmtheit zustimmen mögen, weil sie von dem Prinzip getragen wird, die politische Stabilität durch eine Gemeinschaftlichkeit zu erhalten. Aber bedenklich werden wir, wenn wir uns umschauen, worin heute die Gemeinschaftlichkeit bestehen soll.6
Was über die Jahrhunderte als sensus communis und als bonum commune erinnert wurde und in der Aufklärung wie in ihren Folgen als Freiheit in Gemeinschaftlichkeit unsere Moderne neu bestimmte,7 hat sich in der kapitalistischen Epoche zum einen als Marktliberalismus ausgestaltet, zum anderen kompensatorisch im Wohlfahrtsstaat, der die negativen externen Effekte der Marktfreiheiten durch soziale Transfers und Infrastrukturen auffangen sollte. Der Markliberalismus operiert nicht mehr im Gemeinschaftlichkeitsmodell, sondern versucht, über das Wachstum alle Bürger über Einkommensbindungen zu vergesellschaften – leistungsdifferent, nicht mehr vom Freigiebigkeitskonzept der Antike getragen, sondern basierend auf einem Selbstbestimmungsmodell wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Das Politische wird aus dem Ökonomischen ausgelagert, sozialisiert und individualisiert. Damit aber fehlt dem Demokratischen, wenn wir die Antike zum Maßstab nähmen, die Tugendbildung der Bürger im ausgeprägten sensus communis, für Aristoteles ein Kernkonzept politischer Stabilität.
An diesem Punkt setzt die Kritik ein, die den Verlust der Tugenden und der Gemeinschaftlichkeit (Solidarität) beklagt.8 Der amerikanische Politikwissenschaftler Patrick Deneen geht so weit, den Liberalismus mit seinen Individualisierungs- und Desozialisierungstendenzen als Grund für die Auflösung des Gemeinschaftlichen zu sehen.9 Der Liberalismus untergrabe seine eigenen Grundlagen, indem er traditionelle soziale Bindungen und Institutionen schwäche, die für sein Funktionieren eigentlich notwendig wären. Die liberale Demokratie muss aus seiner Sicht in eine postliberale Phase übergehen. Deneen sieht dies nicht nur als Krise, sondern als fundamentalen Systemwandel: erstens stärkere lokale Gemeinschaften mit mehr Autonomie und Selbstverwaltung statt zentralisierter Staatsmacht; zweitens Wiederherstellung traditioneller Institutionen wie Familie, Kirche und lokale Vereinigungen als zentrale gesellschaftliche Säulen; drittens eine Wirtschaftsordnung, die sich am Gemeinwohl orientiert statt am reinen Individualismus – mit Fokus auf Familienbetrieben, lokaler Produktion, der Einschränkung großer Konzerne, nachhaltiger Ressourcennutzung, einem Bildungssystem, das Tugenden und gemeinschaftliche Werte vermittelt statt nur technisches Wissen; viertens eine Politik, die auf geteilten moralischen Grundlagen und dem Gemeinwohl basiert statt auf reiner Interessenvertretung.
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