Heft 888, Mai 2023

Popkolumne

Abgesänge von Jens-Christian Rabe

Abgesänge

Auf die Frage, was eigentlich die kleinste Einheit von Pop ist, gibt es einige interessante Antworten: eine Geste, ein Geräusch, ein Laut, ein Sound und manch anderes mehr. Welche man für die überzeugendste hält, hängt davon ab, aus welchem Winkel man gerade auf das Phänomen blickt. Hohe Plausibilität genießt im Nachdenken über Popmusik spätestens seit den siebziger Jahren der soziologische Blick, also die Interpretation der Zeichen des Pop als gesellschaftsanalytisch aussagekräftige Entscheidungen. Das hat gute Gründe. Pop war im Westen längst mehr als Musik, Pop war die Tonspur der Jugend und ihrer Revolten und damit der Zukunft geworden – oder er wurde immerhin als solche wahrgenommen (in Deutschland, traditionell Pop-Entwicklungsland, stand auf den ersten beiden Plätzen der Jahres-Charts 1968 tatsächlich Heintje mit Mama und Du sollst nicht weinen, in den USA allerdings die Beatles mit Hey Jude und Cream mit Sunshine Of Your Love).

Vor allem allerdings war und ist Pop als Musik harmonisch, dramaturgisch und rhythmisch eine klassische Genre- oder Formelkunst. Mit anderen Worten: Bei jedem Genre (Rock, Folk, Pop, Hip-Hop, Country, House usw.) gibt es so einfache wie strenge musikalische Konventionen, denen auch die innovativsten Autoren auf die eine oder andere Weise folgen müssen. Tun sie es nicht, kann künstlerisch immer noch Großes entstehen, die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass es auch ein großes Publikum findet, ist schlagartig geringer. Das ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil die Varianz automatisch stark eingeschränkt ist, Segen, weil es sofort auf die feinen Unterschiede ankommen kann. Womit wir wieder bei den kleinsten Einheiten wären.

Das ewige Pop-Paradox

Pop ist so zu der Kunst geworden, bei der es am ehesten möglich ist, dass etwas eigentlich verrückt Avantgardistisches, etwas, von dem man gerade eben noch dachte, es sei einem breiteren Publikum unvermittelbar, ein Nummer-eins-Hit werden kann. Snoop Doggs ostentativ minimalistischen Hit Drop It Like It’s Hot aus dem Jahr 2004 zum Beispiel, bei dem wesentliche Teile der Musik aus Zungenschnalzen und dem Geräusch bestehen, das eine Graffiti-Sprühflasche macht.

Die Strophe, der Refrain, der Song – also die Einheiten des Pop, die die Aufmerksamkeit des breiten Publikums musikalisch und rezeptionsästhetisch leiten – blieben darüber stabile Orientierungspunkte. Im Grunde überlebten diese Formen alle noch so oft und noch so überzeugend ausgerufenen Tode des Pop, über sämtliche Spielarten und Qualitätsstufen hinweg. Zuletzt wurde er – genretypisch retroman – im vergangenen Herbst von Ole Petras sogar in der Zeitschrift zu Grabe getragen, die seinen Namen trägt, in Pop. Herausragende Singles, so Petras, gebe es natürlich immer noch, aber »gesamtgesellschaftliche Anliegen« artikulierten sich nicht länger »in Form von Songs«. Die Gründe für den Bedeutungsverlust sieht er in der Optimierung des Songwritings der Stars (dass an einem Album mehr als zehn Autoren mitarbeiten ist keine Seltenheit mehr) und der damit einhergehenden Normierung: »Es sind zu viele Leute im Zimmer; man fühlt sich angesprochen, aber nicht gemeint.« Zudem seien durch die Digitalisierung die Produktionsmittel zugänglicher, der Musikkonsum sehr unkompliziert und privateste Informationen über die Stars jederzeit verfügbar, was die Sache aber eben auch unverbindlicher mache und wertloser: »Wenn Songs quasi industriell hergestellt werden, keine opaken Orte und genialischen Fertigkeiten mehr vonnöten sind, wenn jedes Lied jederzeit und überall verfügbar ist und lückenlos erklärt wird, sinkt die Bereitschaft, in Popmusik Zeit, Geld, Herzblut zu investieren.«

Notorisch kultur- und kapitalismuskritische Klagen dieser Art sind sicher nicht ganz falsch, womöglich sagen sie allerdings etwas mehr über – im Zweifel Jahrzehnte zurückliegende – Prägungen und Vorlieben des Klägers aus als über den aktuellen Stand des Beklagten. Die Beschwerde, der Pop sei nicht mehr das, was er einmal war und verdorben vom verdammten Geschäft, ist eine Art Grundbass seiner Entwicklung, und nicht mal die scheinen vor ihr sicher, die dereinst auch mal der Grund für die Klage waren. Es gilt das ewige Pop-Paradox: Nur wenn er regelmäßig für tot erklärt wird, steckt noch Leben in ihm. Es ist nur eben im Zweifel ein anderes als das, das die kennen, die dessen Verlöschen beklagen.

What makes this song great?

Um die Situation des Popsongs jenseits dieser stark impressionistischen Urteile besser ermitteln zu können lohnt ein Blick auf den Youtube-Kanal des 1962 geborenen amerikanischen Musikers, Tontechnikers und Produzenten Rick Beato. Er ist eine Art Pop-Polymath und für hiesige Popbegriffe ein wandelnder Widerspruch. Jazz-Studium, Musikdozent an der Universität, dann leidlich erfolgreicher Grunge-Musiker und Session-Gitarrist, später Metal-Produzent und Songwriter, der 2007 mit der Mainstream-Country-Band Parmalee den Song Carolina schreibt, der 2013 schließlich auf dem ersten Platz der Country-Charts landet und sich über eine Million Mal verkauft.

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