Heft 898, März 2024

Postkoloniale Altertumswissenschaft und Theorie als Alibi

Die Ägyptologie auf der Suche nach sich selbst von Florian Ebeling

Die Ägyptologie auf der Suche nach sich selbst

Afrofuturismus und die Suche nach einer postkolonialen Ägyptologie

Die Ägyptologie ist kaum zweihundert Jahre alt und befindet sich in einer eigentümlichen Spannung: Das öffentliche Interesse am antiken Ägypten ist groß, aber die Ergebnisse des Fachs erreichen die Öffentlichkeit kaum. Zudem wird das Selbstwertgefühl dieser hochspezialisierten Altertumswissenschaft seit geraumer Zeit durch Postkolonialismus und Methodendiskussionen in den Kulturwissenschaften herausgefordert. So war »The future of ancient Egypt« das Motto des alle vier Jahre stattfindenden International Congress of Egyptologists (ICE), der 2023 im niederländischen Leiden abgehalten wurde. Fast eintausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen, 369 Vorträge waren angekündigt. Im Einladungsschreiben ging es um die Frage, wie mit den kolonialen Ursprüngen des Fachs umgegangen werden kann und welche Konsequenzen für ein Fachverständnis gezogen werden müssen, das möglichst inklusiv und offen sein möchte. Die Veranstalter wollten den Worten Taten folgen lassen und machten Arabisch neben Englisch zur offiziellen Kongresssprache, ägyptische Ägyptologen kamen prominent zu Wort. Das klingt plausibel und führte doch zu einem Mexican stand-off von missglücktem Postkolonialismus, strukturellem Rassismus und latentem Essentialismus. Was war geschehen, und wie reagiert dieses Fach, das viel über seine Gegenstände nachdenkt, aber wenig über sich selbst?

Im Vorfeld der Tagung gärte es: Das Rijksmuseum van Oudheden im niederländischen Leiden als Mitveranstalter des Kongresses eröffnete im April eine Sonderausstellung mit dem Titel »Kemet. Egypt in Hip-Hop, Jazz, Soul & Funk«. Es ging um Ägypten als Bezugspunkt für das Empowerment von Menschen, die sich als schwarz verstehen, deren Vorfahren eine lange Geschichte von Ausbeutung und Unterdrückung erfahren haben und denen über Jahrhunderte Geschichte abgesprochen wurde. Darunter Jazzmusiker wie Sun Ra oder Miles Davis, der Rapper Nas oder Rihanna, aber auch zahlreiche Unbekannte und Vergessene.

Diese Ausstellung hatte das ägyptische Supreme Council of Antiquities und dessen Generalsekretär Mostafa Waziri so erzürnt, dass den Mitgliedern der ägyptischen Delegation der Besuch des Museums bei der Tagung untersagt wurde und dem Museum die seit 1975 bestehenden Grabungslizenzen für die Nekropole Sakkara entzogen wurden. Waziri, der eine der drei Keynotes bei der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses hielt, warf dem Museum vor, mit einem blackwashing die ägyptische Geschichte zu verfälschen. Dagegen müsse man vorgehen: »We have to stop this kind of stuff we do not like.« Eine kaum verklausulierte Drohung an all die Ägyptologen, für die Grabungen in Ägypten ein Fundament ihrer Arbeit sind.

Nun könnte man es sich leicht machen: Was erwartet man anderes von einem Behördenvertreter einer korrupten Militärregierung (Platz 166 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit für 2023, erstellt von Reporter ohne Grenzen)? Man könnte auf die prekäre Lage der Sudanesen in Ägypten verweisen, auf das verbreitete blackfacing oder andere Formen von strukturellem Rassismus oder auf ein Wissenschaftsverständnis, das die Hauptaufgabe der Ägyptologie in der Schatzsuche als Marketinginstrument für den Tourismus sieht. Aber es lohnt sich, den Hintergründen nachzugehen, denn es geht dabei um Rassismus, Postkolonialismus, Intersektionalität, multidirektionale Erinnerung und kulturelle Identität – und eben auch um die Zukunft der Ägyptologie.

Wieso der Ärger über den Afrozentrismus?

Waziris Unmut teilen viele Ägypter: Im Egyptian Independent erschien am 17. Mai 2023 ein Bericht über die Ausstellung. Dass darin die ikonische Totenmaske Tutanchamuns »as black« dargestellt wurde, wird als Beleidigung der ägyptischen Kultur verstanden. Der Gegenstand des Ärgers ist eine Büste, die nach dem Cover des 1999 erschienenen Albums I am … des Rappers Nas gestaltet wurde und die Totenmaske mit dessen Zügen zeigt. Aber es ist nicht so sehr dieser Einzelfall, es ist vielmehr die These, dass die Ägypter der Antike eine schwarze Hautfarbe gehabt hätten, die den Ärger schürt. Dabei ist das auf wissenschaftlicher Ebene unproblematisch: In der Antike gab es in Ägypten eine Bevölkerung mit unterschiedlichen ethnischen Wurzeln und Hautfarben. Aber beim Streit um die Kemet-Ausstellung geht es weniger um die Wahrheitspraktiken der Wissenschaft als um kulturelle Identität, Macht und Deutungshoheit. Das Skandalon der Ausstellung sei deren »Afrozentrismus« gewesen und die Frage, wem die Geschichte gehört.

Erste Ansätze eines Afrozentrismus finden sich bei dem afroamerikanischen Freimaurer John Marrant, der 1789 die ägyptische Kultur als einen ersten Höhepunkt schwarzafrikanischer Kulturen pries. Er nahm damit nur die übliche historische Ableitung der Freimaurerei auf, bei der Afrika und Ägypten zur Vor- oder Frühgeschichte der Logen gezählt werden. Für Marrant war Ägypten »the principle part of African Ethiopia«, es gehörte für ihn also zu Schwarzafrika. Zwar dominierte insbesondere im 19. Jahrhundert das Bild von Ägypten als Sklavenhaus (Go down Moses), aber die Vorstellung von Ägypten als erstem Höhepunkt schwarzafrikanischer Kultur verschwand nie völlig. Im 20. Jahrhundert und im Zuge des beginnenden Postkolonialismus – Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken erschien 1952 – hat Cheikh Anta Diop 1954 in Nations nègres et culture Ägypten als eine schwarzafrikanische Kultur beschrieben und die Griechen als deren Schüler und Erben. Ebenfalls 1954 veröffentlichte George Granville Monah James das Buch Stolen Legacy, dessen Untertitel bereits die These enthält und polemisch zuspitzt: The Greeks Were Not the Authors of Greek Philosophy, But the People of North Africa, Commonly Called the Egyptians. James beruft sich auf Klassiker der Antike wie Plutarch, Herodot oder Strabon, aber auch auf Schriften von Freimaurern zum Zusammenhang der antiken Mysterien mit der Freimaurerei. Und wie bei den Freimaurern üblich, ist Geschichte hier kein Selbstzweck, sondern dient der Legitimation, ohne Quellenkritik und methodische Kontextualisierung.

Die große akademische Bühne erreichte die These von Ägypten als schwarzafrikanischer Kultur und maßgeblichem Ursprung Europas mit Martin Bernals dreibändigem Werk Black Athena (1987–2006). Die Griechen hätten, so Bernal, Ägypten noch als Fundament der eigenen Kultur anerkannt. Erst mit der Etablierung der modernen Altertumswissenschaften und dem ihnen inhärenten Rassismus und Antisemitismus seien die afrikanischen und phönizischen Wurzeln der abendländischen Kultur geleugnet und die Griechen zu einer autochthonen Kultur erklärt worden. Bernals Bücher wurden in den Altertumswissenschaften harsch kritisiert (berüchtigt ist die Kontroverse mit Mary Lefkowitz), und sie fanden im etablierten akademischen Milieu nur wenige Verteidiger. So scharf Bernal die Altertumswissenschaft kritisiert, so unkritisch verfährt er mit seinem Gegenentwurf.

Dass im Postkolonialismus der Afrozentrismus keine signifikante Rolle spielt, liegt vielleicht auch an dessen fatal naivem Wahrheitsbegriff. Vergleicht man Black Athena etwa mit Edward Saids Orientalism, so sieht man, dass beide zu zeigen versuchen, dass die Konzepte von Orient und Afrika in der Wissenschaft eine Geschichte haben, die auch die Prägungen ihrer Zeit und damit des Rassismus, Klassismus und Kolonialismus aufweist, die deshalb dekonstruiert beziehungsweise kritisiert werden müssen. Bernal aber verbindet damit, anders als Said, eine These, wie es wirklich gewesen sei (bei ihm das »antike Modell«) und unterzieht seine Quellen keiner historisch-kritischen Analyse.