Heft 916, September 2025

Postkoloniale Theorie und Antisemitismus

von Sebastian Conrad

Seit einiger Zeit ist der Angriff auf postkoloniale Theorie in vollem Gange. Die bevorzugte Waffe in dieser Auseinandersetzung ist der Antisemitismusvorwurf. Die AfD setzte in einem Antrag an den Bundestag im Mai 2024 den Ton. Darin rief sie die Regierung auf, »sich von postkolonialistischen und mit ihr zusammenhängenden antisemitischen Narrativen« zu distanzieren sowie »den Zusammenhang von postkolonialistischen Theorien und Antisemitismus« zu thematisieren.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hatte sich einige Jahre zuvor schon ähnlich geäußert. Er stellte die »Frage, wie es um das Verhältnis der postcolonial studies zum Antisemitismus bestellt ist«, das insgesamt zu wenig Beachtung finde, »auch international«. »Ganz offensichtlich kollidieren manche dieser Theorien mit unserer Erinnerungskultur.« Im Frühjahr 2024 wurde er noch deutlicher. »Der ungeniert zur Schau gestellte Antisemitismus«, befand er nun umstandslos, »baut auf dem schiefen Theoriegebäude der postkolonialen Bewegung auf.«

Auch Wissenschaftler stimmen in diesen Chor mit ein. Der Philosoph Ingo Elbe sieht im Postkolonialismus eine der Wurzeln einer »globalisierten ideologischen Offensive gegen Israel, Holocausterinnerung und Judentum«. Auch eine ganze Reihe von Historikern hat sich die Formel »Postkolonialismus gebiert Antisemitismus« zu eigen gemacht. Die Historische Zeitschrift widmete dem Zusammenhang ein ganzes Themenheft, um die Anschuldigungen zu erhärten. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, stört sich daran, dass postkoloniale Ansätze liebgewonnene Axiome der deutschen Erinnerungspolitik infrage stellen – die Singularität des Holocaust, die systematische Trennung von Antisemitismus und Rassismus. Und nicht zuletzt sei bei postkolonialen Texten die Grenze zu »israelbezogenem Antisemitismus kaum erkennbar«.

In der breiteren Öffentlichkeit sind die Formulierungen häufig noch kompromissloser. Mehr als fünfzig Zeitungsartikel hat Joël Glasman gezählt, die in den ersten sechs Monaten nach dem 7. Oktober 2023 in der deutschen Presse erschienen und die Angriffe auf postkoloniale Ansätze wiederholten. Der Journalist Philipp Peyman Engel betitelte ein Kapitel seines jüngsten Buches umstandslos »Postkoloniale Endlösung«.

Was hat es damit auf sich? Angesichts der Zunahme von antisemitischen Äußerungen und Handlungen in beinahe allen Milieus der Gesellschaft ist die Suche nach Ursachen eine wichtige Aufgabe. Aber wie kommt man darauf, in einer vergleichsweise schmalen wissenschaftlichen Strömung einen Hauptgrund zu erkennen? Und ist an dem Zusammenhang von postkolonialer Theorie und Antisemitismus etwas dran?

Begründungsversuche

Zunächst wäre zu fragen, wie die Kritiker den Zusammenhang zwischen Postkolonialismus und Antisemitismus herstellen und begründen. Drei unterschiedliche Strategien kommen dabei zum Einsatz. Alle drei, das sei vorweggenommen, können letzten Endes nicht überzeugen.

Das erste Argumentationsmuster greift weit zurück – weit vor die Publikation von Edward Saids Orientalism im Jahr 1978, das üblicherweise als Geburtsstunde der postcolonial studies angesehen wird. Dabei verschiebt sich der Fokus von post- zu antikolonialen Positionen. Konkret werden einzelnen Vertretern des antikolonialen Widerstands Kontakte oder sogar Affinitäten zum Nationalsozialismus nachgesagt. Zu der Handvoll Akteure, die regelmäßig genannt werden, gehört beispielsweise der zweifellos antisemitische Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der 1936 bis 1939 den arabischen Aufstand gegen jüdische Einwanderer nach Palästina anführte und danach enge Kontakte zum Nazi-Regime pflegte; oder auch Subhash Chandra Bose, der auf Unterstützung des NS-Staats im indischen Unabhängigkeitskampf setzte.

Unabhängig von der Frage, ob es sich hier jeweils um weltanschauliche Nähe oder strategische Bündnisse handelte (das konnte sich von Fall zu Fall unterscheiden), bleibt jedoch unklar, was diese Verbindungen über postkoloniale Theorien und Forschung aussagen. Inwiefern können sie ein Licht auf die Arbeiten von Anne McClintock, Partha Chatterjee, Ann Laura Stoler oder Mrinalini Sinha werfen, um nur einige Namen zu nennen? Selbst mit viel Fantasie fällt es schwer, hier Verbindungen herzustellen.

Zweitens werden Aussagen einzelner Vertreter postkolonialer Theorie herangezogen, denen vorgeworfen wird, sich Israel-kritisch oder antisemitisch geäußert zu haben. So wird etwa auf Edward Said verwiesen, der symbolisch einen Stein gegen die israelische Grenze warf; oder auf Achille Mbembe (auch wenn der von sich weist, »zur Denkschule des Postkolonialismus« zu gehören). Häufig findet auch Judith Butler in diesem Zusammenhang Erwähnung, die jedoch keine postkoloniale Theoretikerin ist. Das Beispiel Butler zeigt schon, dass es den Kritikern häufig nicht leichtfällt, einschlägige Gewährsleute ausfindig zu machen. Welche gedankliche Akrobatik hier zum Teil nötig ist, zeigt der Beitrag von Andreas Wirsching, der als einzigen Kronzeugen für einen angeblichen postkolonialen Antisemitismus den afroamerikanischen Muslimführer Khalid Abdul Muhammad heranzieht – eine eigenwillige Wahl, da bislang noch niemand Muhammad als postkolonialen Denker identifiziert hatte (was vermutlich auch so bleiben wird).

Generell sind die meisten Versuche, postkolonialen Theoretikern Antisemitismus nachzuweisen, im Sande verlaufen. Unabhängig von empirischen Nachweisen stellt sich aber eine noch grundsätzlichere Frage: Was würde ein solcher Befund, gesetzt, es gäbe ihn, überhaupt aussagen? Welche Rückschlüsse kann man aus individuellen Äußerungen auf den Ansatz als Ganzes ziehen? Es wäre jedenfalls wenig überzeugend, wenn man etwa aus den antisemitischen Tiraden von Henry Ford schließen würde, Unternehmer, Autobauer (oder Amerikaner) seien generell von Judenhass erfüllt. Es käme auch niemand auf die Idee, den Holocaustleugner David Irving zum Anlass zu nehmen, die Geschichtswissenschaft generell unter Antisemitismus-Verdacht zu stellen.

Was kann man aus Einzelfällen überhaupt schließen? Die Generalisierung muss jedenfalls gut begründet und aus der Logik des Gedankengebäudes selbst abgeleitet werden. Auch im Falle des Postkolonialismus müsste daher nachgewiesen werden, dass sich eine Nähe zum Antisemitismus aus den Annahmen und Prinzipien des theoretischen Ansatzes heraus ergibt. Der Versuch, eine solche inhärente Verbindung nachzuweisen, wird jedoch gar nicht erst unternommen.

Stattdessen wird, drittens, moniert, dass die massive öffentliche Kritik an Israels Palästina-Politik sich häufig auf eine Deutung Israels als Kolonialmacht stützt. Diese Interpretation bezieht sich einerseits auf die Aussagen von zionistischen Denkern und Politikern, von Theodor Herzl bis Benjamin Netanjahu; und andererseits auf die Politik der Landnahme, Verdrängung und Ermordung, nicht zuletzt durch gewaltbereite Siedler im Westjordanland und derzeit durch das Militär im Gazastreifen. Im Grunde ist erklärungsbedürftig, dass diese Lesart fast nur in der deutschen Diskussion als problematisch angesehen wird; international betrachtet ist das in der Tat ein Sonderweg.

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