Heft 889, Juni 2023

Privilegien

von Markus Rieger-Ladich

Im April 1977 veröffentlichte das Combahee River Collective, ein Zusammenschluss schwarzer und lesbischer Frauen, die in Boston zueinander gefunden hatten, ein politisches Manifest. In ihrem Black Feminist Statement erklärten sie ihre spezifische gesellschaftliche Positionierung zum Ausgangspunkt ihres emanzipatorischen Engagements. Obwohl ihre charakteristische Situation als Opfer rassistischer wie auch patriarchaler Strukturen nahegelegt hätte, solidarische Beziehungen zu jenen beiden sozialen Gruppen zu pflegen, mit denen sie Diskriminierungserfahrungen teilten, erwiesen sich diese doch als kaum belastbar. Schlimmer noch: Die schwarzen Frauen und Lesben wurden von beiden Seiten im Stich gelassen; sie fühlten sich daher doppelt verraten. Weder konnten sie bei ihren schwarzen »Brüdern« darauf vertrauen, dass diese sie in ihrem Kampf gegen Sexismus unterstützen würden, noch konnten sie damit rechnen, dass sich die weißen »Schwestern« als Weggefährtinnen beim Kampf gegen Rassismus erweisen würden. Und so hielten sie in ihrem Statement fest: »Uns ist bewusst, dass wir die einzigen Menschen sind, denen wir wichtig genug sind, um beständig für unsere Befreiung zu kämpfen.«1

Das kämpferische Manifest, das nicht allein die unterschiedlichen Formen der Diskriminierung in aller Schärfe verurteilte, sondern auch allen Spielarten des Paternalismus und der Stellvertretung entgegentrat und dabei dezidiert kapitalismuskritisch argumentierte, gilt heute als einer der Schlüsseltexte emanzipatorischer Identitätspolitik.2 Es war mehr als ein Nebeneffekt, dass die Verfasserinnen den weißen, meist bürgerlichen Feminismus zu einer Reaktion nötigten. Auch wenn die Namen schwarzer Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen wie Audre Lorde, Angela Davis, Toni Morrison und bell hooks heute ungleich populärer sind als das Autorinnenkollektiv, findet sich doch schon hier die Aufforderung an weiße Feministinnen, nicht länger die Augen vor der eigenen Verstrickung in die Herrschaftsverhältnisse zu verschließen. Und diese endlich aufzuarbeiten: »Als Schwarzen Feministinnen wird uns ständig schmerzlich bewusst gemacht, wie wenig sich weiße Frauen bemüht haben, ihren Rassismus zu verstehen und zu bekämpfen. Dies erfordert unter anderem, dass sie ein tieferes Verständnis von Race, Hautfarbe und Schwarzer Geschichte und Kultur entwickeln. Rassismus in der weißen Frauenbewegung zu eliminieren ist per Definition Arbeit, die weiße Frauen leisten müssen.«

Abendliche Arbeitseinheiten

Eine der Frauen, die sich direkt angesprochen fühlten, war die feministische Sozialwissenschaftlerin Peggy McIntosh. Sie war nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Streitschrift an das Wellesley College gewechselt, eine private Hochschule für Frauen, unweit von Boston. Wie viele andere Weggefährtinnen auch3 hatte sie den Vorwurf, von rassistischen Strukturen zu profitieren, zunächst von sich gewiesen. Schließlich aber gab sie dem Zweifel Raum und versuchte, der behaupteten Komplizenschaft auf die Spur zu kommen. Abends, nachdem die Vorbereitungen für den nächsten Tag erledigt waren – Hausarbeiten korrigiert, Seminare vorbereitet –, zog es sie erneut an den Schreibtisch. Als sich das wiederholte, als sie immer häufiger zu vorgerückter Stunde noch eine Arbeitseinheit einlegte, wurde sie von ihrem Ehemann gefragt, was sie denn umtreibe, woran sie so spät noch arbeite. Die Antwort war so knapp wie verblüffend: Sie schreibe das auf, was sie nie habe wissen wollen.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors