Psychopathologie errechnen Digitalisierung von Sprache und die Zukunft der Psychiatrie
von Philipp HomanWer heute einen Gegenstand wie Digitalisierung anders als mit spitzen Fingern anfassen möchte und dem Hype und der mit ihm verbundenen Unschärfe des Begriffs etwas entgegenzusetzen gedenkt, ist vielleicht nicht schlecht beraten, sich zunächst daran zu erinnern, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt. Demgegenüber soll hier von der Digitalisierung eines konkreten Signals die Rede sein, nämlich von Sprache, und zwar im Hinblick auf ihren klinischen Einsatz im psychiatrischen Kontext. Wie sich zeigen wird, ist es gerade dieser Kontext, der den Einsatz von digitalisierter Sprache nahelegt, weil in ihm Sprache das fundamentale Medium für die klinische Untersuchung überhaupt darstellt.
Auf der anderen Seite wird man gerade der Psychiatrie eine gewisse technokratische Voreiligkeit nicht absprechen wollen, mit der sie technische Entwicklungen in der Vergangenheit ausgesprochen überschwänglich begrüßt hat. Wer erinnert sich nicht an die Entwicklung der modernen Genetik und die sie begleitenden psychiatrischen Verlautbarungen, demnächst werde man den Bauplan für Depressionen vorliegen haben? Nicht viel besser die Pressemitteilungen zur funktionellen Bildgebung, wo man in schönster neophrenologischer Manier die verantwortliche Hirnregion für dieses und jenes meinte gefunden zu haben, und etwa zeitgleich, und von der Bildgebung durchaus motiviert, ein erstaunlicher Pseudodiskurs über die menschliche Willensfreiheit nicht zuletzt in deutschen Zeitungen ausgetragen wurde. Wer also gerade jetzt, im ganzen Wirbel, der um Künstliche Intelligenz und Sprache gerade gemacht wird, bereits konkrete Chancen für die Medizin meint benennen zu können, riskiert, am Ende selbst nur Teil des Wirbels gewesen zu sein.
Dieses Risiko in Kauf nehmend, kann man sich zum Beispiel bei der akademischen Soziologie nach dem richtigen Besteck umsehen. So haben unterschiedliche Denker wie Dirk Baecker, Armin Nassehi und Andreas Reckwitz der Digitalisierung teilweise komplementäre Facetten abgewinnen können, wobei Reckwitz die technische Entwicklung in sein eigenes Theoriegebäude einer generellen Aufwertung des Besonderen einbaut: Digitalisierung beschleunigt und verstärkt demnach den Fokus auf Singularitäten, was über eine Aufwertung des Individuums explizit hinausgeht; auch Orte, Ereignisse, Produkte können singularisiert werden, und wo die Singularisierung nicht vollständig gelingt, da können durchaus auch Singularitätsverlierer übrigbleiben.
Aber selbst die Gewinner sind es womöglich nur zum Schein: Isolde Charim hat vor allem das Qualvolle, das dem digitalisierten Profilierungsdruck anhaften mag, herausgearbeitet und dem schon zum Überdruss behaupteten angeblich zunehmenden individuellen Narzissmus eine eigenständige und soziologische Interpretation entgegengesetzt. Die »Qualen des Narzissmus« liegen unter anderem darin, dass das Ziel, das Ich-Ideal nämlich, genau wie im Spiegelbild des Narziss-Mythos nie erreicht werden kann. Der Narzisst ist damit, wie wir aus der klinischen Praxis wissen, aufs Unglück abonniert. Charim geht jedoch über diesen Gemeinplatz hinaus, wenn sie sagt, es ist vor allem die gesellschaftliche Logik, der objektive Narzissmus, der dem Einzelnen narzisstisches Verhalten nahelegt, wenn nicht geradezu abverlangt.
Keineswegs müssen wir also von einer Zunahme der im engeren Sinn narzisstischen Persönlichkeitsstörung ausgehen – zumal empirische Belege dafür fehlen. Viel schlimmer, der Einzelne muss, ob er will oder nicht, sich narzisstisch verhalten, um der Logik des Besonderen zu entsprechen. Damit verhält er sich wie jener Narzisst, der er nur im selten klinischen Fall auch wirklich ist. Individuelle Profile muss man mittlerweile fast überall anlegen, wo man das Internet benutzen möchte – man könnte sagen, jede Website tendiert zum sozialen Netzwerk und jeder Anbieter zum Datensammler. Dass dies vor allem den ganz großen Anbietern wirklich gelingt, liegt an den mit der digitalen Ökonomie verbundenen Netzwerk- und Skalierungseffekten.
Individualisierung
Welche Auswirkungen dürfen von dieser Entwicklung für die psychischen Erkrankungen erwartet werden? Wenn die These des Profilierungsdrucks (und der damit verbundenen Qualen) stimmt, so ist eine Zunahme von affektiven Reaktionen darauf nicht abwegig. Die psychischen Kosten für den Einzelnen, sich wie ein Narzisst verhalten zu müssen, können erheblich sein. Entscheidend ist dabei nur, dies strikt von einer Zunahme von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden, die nach allem, was wir heute wissen, eine ausgeprägte genetische Komponente hat.
Davon abgesehen macht sich eine digitalisierte und an der Logik des Besonderen orientierte Gesellschaft im Gesundheitswesen wohl vor allem an einer ebenfalls oft gehörten Forderung bemerkbar, nämlich jener nach einer stärker personalisierten Medizin. Mit ihr zusammen hängt die Utopie einer generell präziseren Medizin, ja Präzisionsmedizin, die in Diagnostik und Therapie dem Individuellen besser, am besten vollständig gerecht wird und damit genau in die aufgewertete Logik des Besonderen passt. Dass die mit ihr verbundenen Annahmen und Erwartungen auf charakteristische Schwierigkeiten stoßen, sei es mathematischer, aber auch ökonomischer Art, sei hier nur am Rande erwähnt; auch widerlegen sie die These vom gesellschaftlichen Druck nicht. Eher wird sie bestätigt, wenn selbst handfeste ökonomische Interessen nicht ausreichen, ihn einzudämmen.
Denn kurz gesagt ist es unklar, wie eine Pharmaindustrie Produkte individualisieren und damit auch noch Geld verdienen sollte, zumal aus statistischer Sicht viel weniger Grund als vielfach behauptet besteht, eine starke individuelle Abweichung im Ansprechen auf Therapien anzunehmen – dies ganz einfach deswegen, weil alleine der Nachweis für derartige Abweichungen äußerst aufwändige Studiendesigns verlangen würde, die in der Praxis kaum je anzutreffen sind. Allein, es wird nicht reichen, sich im klinischen Alltag auf statistische Missverständnisse zu berufen; Patienten werden zunehmend von der Medizin erwarten, zur individuellen Selbstermächtigung angeleitet und zu Experten ihrer Erkrankung zu werden.
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