Heft 889, Juni 2023

Psychopathologie errechnen Digitalisierung von Sprache und die Zukunft der Psychiatrie

von Philipp Homan

Wer heute einen Gegenstand wie Digitalisierung anders als mit spitzen Fingern anfassen möchte und dem Hype und der mit ihm verbundenen Unschärfe des Begriffs etwas entgegenzusetzen gedenkt, ist vielleicht nicht schlecht beraten, sich zunächst daran zu erinnern, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt.1 Demgegenüber soll hier von der Digitalisierung eines konkreten Signals die Rede sein, nämlich von Sprache, und zwar im Hinblick auf ihren klinischen Einsatz im psychiatrischen Kontext. Wie sich zeigen wird, ist es gerade dieser Kontext, der den Einsatz von digitalisierter Sprache nahelegt, weil in ihm Sprache das fundamentale Medium für die klinische Untersuchung überhaupt darstellt.

Auf der anderen Seite wird man gerade der Psychiatrie eine gewisse technokratische Voreiligkeit nicht absprechen wollen, mit der sie technische Entwicklungen in der Vergangenheit ausgesprochen überschwänglich begrüßt hat. Wer erinnert sich nicht an die Entwicklung der modernen Genetik und die sie begleitenden psychiatrischen Verlautbarungen, demnächst werde man den Bauplan für Depressionen vorliegen haben? Nicht viel besser die Pressemitteilungen zur funktionellen Bildgebung, wo man in schönster neophrenologischer Manier die verantwortliche Hirnregion für dieses und jenes meinte gefunden zu haben, und etwa zeitgleich, und von der Bildgebung durchaus motiviert, ein erstaunlicher Pseudodiskurs über die menschliche Willensfreiheit nicht zuletzt in deutschen Zeitungen ausgetragen wurde.2 Wer also gerade jetzt, im ganzen Wirbel, der um Künstliche Intelligenz und Sprache gerade gemacht wird, bereits konkrete Chancen für die Medizin meint benennen zu können, riskiert, am Ende selbst nur Teil des Wirbels gewesen zu sein.

Dieses Risiko in Kauf nehmend, kann man sich zum Beispiel bei der akademischen Soziologie nach dem richtigen Besteck umsehen. So haben unterschiedliche Denker wie Dirk Baecker, Armin Nassehi und Andreas Reckwitz der Digitalisierung teilweise komplementäre Facetten abgewinnen können,3 wobei Reckwitz die technische Entwicklung in sein eigenes Theoriegebäude einer generellen Aufwertung des Besonderen einbaut: Digitalisierung beschleunigt und verstärkt demnach den Fokus auf Singularitäten, was über eine Aufwertung des Individuums explizit hinausgeht; auch Orte, Ereignisse, Produkte können singularisiert werden, und wo die Singularisierung nicht vollständig gelingt, da können durchaus auch Singularitätsverlierer übrigbleiben.4

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