Putin und ich
von Jan Plamper1993. Achtzehn Monate Zivildienst im Ausland mit der Aktion Sühnezeichen bei Memorial Sankt Petersburg. Offene Altenarbeit mit Opfern des Nationalsozialismus und Stalinismus. Fast ein Jahr vorbei. August, eine Expedition mit Memorial auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer, 600 Kilometer nördlich von Petersburg. Auf dem Archipel wurden noch unter Lenin die ersten politischen Gefangenen inhaftiert. Für Alexander Solschenizyn bezeichnete Der Archipel Gulag zweierlei: die reelle Solowezki-Inselgruppe und die metaphorischen Lagerinseln, die sich wie ein Archipel über die gesamte UDSSR erstreckten. Wir sind im ehemaligen Kloster auf der Hauptinsel untergebracht, Schlafsäle nach Geschlechtern getrennt. Kurz vor der Nachtruhe schaue ich einige Betten weiter: Der Dissident, Mitbegründer einer Leningrader Untergrundgewerkschaft nach dem Vorbild der polnischen Solidarność, 1982 verhaftet und verurteilt unter Mitwirkung des KGB-Ermittlers Wiktor Tscherkessow, freigekommen in der Gorbatschow-Amnestie 1987, legt sich gerade ein Handtuch übers Gesicht. »Darf ich fragen, was Sie da tun?« – »Ach, das geht noch auf die Zeit in Untersuchungshaft zurück. Damals hatten sie in der Zelle diese grellen Glühbirnen, die vierundzwanzig Stunden brannten. Seitdem kann ich nicht mehr ohne das Handtuch einschlafen.« Tscherkessow ist Putin-Vertrauter und wird im Jahr 2000 zum Bevollmächtigten für Nordwestrussland ernannt, ein Posten, der die »Machtvertikale« stärken und die Gouverneure schwächen soll.
1993. Ich wohne bei einer armenisch-ukrainischen Intelligenzia-Familie in Sankt Petersburg. Die jüngere Tochter wird in der Schule immer öfter als armjaschka und »Schwarzarsch«, ein Schimpfwort für Leute aus dem Kaukasus, beleidigt. Der Hass richtet sich gegen sichtbare Minderheiten, wie sie in der Migrationsforschung heißen.
1993. Memorial protestiert vor dem »Großen Haus«, der Petersburger KGB-Zentrale, gegen die Übernahme von KGB-Personal in den FSK, wie der Inlandsgeheimdienst des jungen demokratischen Russland hieß. Auf meinem Plakat steht: »Kein einziger KGBler im Sicherheitsdienst Russlands«. Vermutlich hätte ich dem Protest fernbleiben sollen – wir Zivis im Ausland dürfen uns nicht politisch betätigen. Doch das kümmert damals keinen, auch nicht die Geheimdienstler, die nur einmal herauskommen, um zu fragen, was wir da tun. Es liegt auch keine Angst in der Luft, allenfalls etwas Kitzel – wie wäre eine solche Aktion noch vor fünf Jahren ausgegangen? Wie im Jahr 2022?