Rechtsstaatsvariationen
Philip Manows »Unter Beobachtung« von Matthias GoldmannPhilip Manows »Unter Beobachtung«
I.
Philip Manows Essay Unter Beobachtung leistet eine notwendige und willkommene Kritik an der jüngeren Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Beschreibung der gegenwärtigen Rechtsstaatlichkeitskrise. Erstmals in dem Aufsatz Der Geist der Gesetze formuliert, rüttelt Manows Kritik zunächst an der Diagnose, dass eine Krise von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überhaupt vorliege. Die Krisendiagnose sei nur die Folge einer Verengung des Demokratiebegriffs seit den 1990er Jahren. Diese Erkenntnis stelle die Maßnahmen der Europäischen Union zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und anderen »renitenten« Mitgliedstaaten radikal infrage. Die EU gieße Öl ins Feuer, wenn sie die Folgen einer überbordenden Rechtsstaatlichkeit mit nur noch mehr Rechtsstaatlichkeit bekämpfen wolle.
Die Lektüre von Manows Essay hat zunächst etwas Befreiendes. Wer sich mit der Geschichte des Kolonialrechts befasst hat, kann sich nicht restlos wohl dabei fühlen, wie die EU ihren renitenten Mitgliedstaaten auf die Finger schaut und sie in Sachen Rechtsstaatlichkeit belehrt. Bei aller Sorge um die Werte der Union, dem in Artikel 2 EU-Vertrag kondensierten supranationalen Äquivalent der freiheitlich-demokratischen Grundordnung: Westeuropäer, die ihre Überzeugungen universalisieren und anderen aufs Auge drücken – das endete schon einmal nicht gut, trotz bester Intentionen.
Manow verleiht diesem Unwohlsein virtuos Ausdruck. Eine Schlüsselfunktion nimmt dabei seine Unterscheidung zwischen allgemeiner, »elektoraler« Demokratie und dem erst in den 1990er Jahren aufkommenden Begriff der »liberalen« Demokratie ein. Die liberale Demokratie kennzeichneten starke, unabhängige Verfassungsgerichte mit der Kompetenz zur Normenkontrolle, rückversichert durch überstaatliche Normschichten und Institutionen. Indem politische Theorie, Verfassungslehre – denen Manow den beanspruchten Beobachterstatus nicht abkauft – und Verfassungspraxis die liberale Demokratie in den letzten knapp vierzig Jahren zum Leitbild und Schlusspunkt der Verfassungsentwicklung stilisiert hätten, hätten sie erst die begriffliche Möglichkeit einer »illiberalen« Demokratie geschaffen. Diese sei populistisch in dem Sinn, dass sie gegenmajoritäre Gerichte dem Willen der Mehrheit unterwerfen wolle. Letztlich folgten Orban & Co. nichts anderem als dem älteren, die Mitte des 20. Jahrhunderts prägenden Leitbild der elektoralen Demokratie.
So weit, so hegelianisch und so schlüssig. Ohne Hyperkonstitutionalisierung keine Rechtsstaatskrise. Die Revolution frisst ihre Kinder. Gänzlich neu ist die These des Konstitutionalisierungsschubs um 1990 jedoch nicht. In der Rechtswissenschaft setzte in den 1990ern und 2000ern eine Welle an Literatur zur Konstitutionalisierung auf staatlicher und überstaatlicher Ebene ein; dort wurde durchaus rezipiert, dass es sich um ein neues Phänomen handle. Wenngleich diese Literatur das Phänomen ganz überwiegend bejubelte, fehlte es auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht an differenzierten und kritischen Stellungnahmen.
II.
Originell und ertragreich ist vor allem Manows These, dass illiberale Bewegungen als Gegenreaktionen auf die Verengung des Demokratiebegriffs durch die Verklärung der liberalen Demokratie zum alleinseligmachenden Modell zu verstehen sind. Insbesondere im Hinblick auf Mittel- und Osteuropa hat diese These hohen Erklärungswert. Beim Fall des Eisernen Vorhangs stand für diese Staaten die Konsolidierung ihrer nationalen Selbständigkeit im Vordergrund.
Von der internationalen Kontrolle der staatlichen Verfassungsentwicklung hatte man nach zig sowjetischen Interventionen erst einmal genug. Die Garantie für die autonome Entwicklung und gegen einen Rückfall in die Diktatur bildete die europäische Integration – die jedoch die Einführung einer liberalen Demokratie mit ihren Verfassungsgerichten und supranationalen Kontrollen vorausgesetzt habe. Dem Ostblock sei suggeriert worden, damit zum westeuropäischen Modell aufzuschließen, obwohl auch in Westeuropa erst um 1990 herum die Verfassungsgerichte, sofern überhaupt vorhanden, ihre Position gegenüber Parlamenten ausbauten. Insofern habe die Einführung der liberalen Demokratie auf falschen Vorstellungen und falschen Vorspiegelungen beruht. Dass einige Verfassungsgerichte in Mittel- und Osteuropa ihre neugewonnene Machtfülle recht offensichtlich partei- und verteilungspolitisch einsetzten, habe die liberale Demokratie damit diskreditiert, bevor Orban & Co. die Axt an ihre Grundfesten anlegten.
Manow ist beizupflichten, dass im Lichte dieses Befunds die Antwort der europäischen Institutionen und vieler Mitgliedstaaten auf die Rechtsstaatskrise in einigen Mitgliedstaaten am Kern des Problems vorbeigeht, ja, dem Versuch gleichkommt, den Teufel mit dem Beelzebub zu vertreiben. Wenn zu viel richterliche Macht zumindest eines der Probleme hinter dieser Entwicklung darstellt, dürfte der Versuch, sie mit noch mehr Rechtsstaatlichkeit und ergo richterlicher Macht zu bändigen, nach hinten losgehen. Das bestätigt eindrucksvoll den Vorwurf des rechtsstaatlichen beziehungsweise richterlichen overreach, der übrigens neben Orban, Kaczyński und anderen auch schon von diversen britischen Regierungen und selbst ehemaligen Bundespräsidenten erhoben worden ist.
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