Heft 905, Oktober 2024

Rechtsstaatsvariationen

Philip Manows »Unter Beobachtung« von Matthias Goldmann

Philip Manows »Unter Beobachtung«

I.

Philip Manows Essay Unter Beobachtung leistet eine notwendige und willkommene Kritik an der jüngeren Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Beschreibung der gegenwärtigen Rechtsstaatlichkeitskrise. Erstmals in dem Aufsatz Der Geist der Gesetze formuliert, rüttelt Manows Kritik zunächst an der Diagnose, dass eine Krise von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überhaupt vorliege.1 Die Krisendiagnose sei nur die Folge einer Verengung des Demokratiebegriffs seit den 1990er Jahren. Diese Erkenntnis stelle die Maßnahmen der Europäischen Union zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und anderen »renitenten« Mitgliedstaaten radikal infrage. Die EU gieße Öl ins Feuer, wenn sie die Folgen einer überbordenden Rechtsstaatlichkeit mit nur noch mehr Rechtsstaatlichkeit bekämpfen wolle.

Die Lektüre von Manows Essay hat zunächst etwas Befreiendes. Wer sich mit der Geschichte des Kolonialrechts befasst hat, kann sich nicht restlos wohl dabei fühlen, wie die EU ihren renitenten Mitgliedstaaten auf die Finger schaut und sie in Sachen Rechtsstaatlichkeit belehrt. Bei aller Sorge um die Werte der Union, dem in Artikel 2 EU-Vertrag kondensierten supranationalen Äquivalent der freiheitlich-demokratischen Grundordnung:2 Westeuropäer, die ihre Überzeugungen universalisieren und anderen aufs Auge drücken – das endete schon einmal nicht gut, trotz bester Intentionen.

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