Heft 883, Dezember 2022

Reparationen der Republik

Champollion vor dem Collège de France von Markus Messling

Champollion vor dem Collège de France

Zum Jubiläum strahlt sie wieder in blütenreinem Weiß im Innenhof des Collège de France: die Statue von Jean-François Champollion. Frankreich feiert den Helden der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen, die sich im Herbst 2022 zum zweihundertsten Mal jährte. Von ein paar Erinnerungsveranstaltungen abgesehen, hatte die Skulptur jahrzehntelang zunehmend unbemerkt im Vorhof der prestigereichsten Bildungseinrichtung Frankreichs gestanden. Im Gegensatz zur Dante-Bronze, die vor dem Collège an der Square Michel Foucault noch in Reichweite der Passanten steht, gehört die Champollion-Statue hinter den hohen Gittern des Palais zu einer anderen Welt. Die meisten Besucher, die über die Jahre durch das kleine Tor in den Vorhof des Collège schlüpften, warfen nur einen kurzen Blick auf das vom sauren Regen der Pariser Luft verwaschene Marmorgesicht. Jetzt aber soll der große Philologe die Blicke wieder auf sich ziehen.

Das wird noch interessant, schließlich hat Frankreich nicht erst seit der Welle, die mit Black Lives Matter insbesondere auch in seinen Übersee-Départements wie Guadeloupe und Martinique zahlreiche Protagonisten des französischen Kolonialismus vom Sockel holte, eine Denkmäler-Debatte. Das Unbehagen und die Empörung angesichts der Champollion-Statue, die etwa der bekannte ägyptische Schriftsteller Anis Mansour 2007 in Asharq Al-Awsat oder der ägyptische Musiker Hicham Gad 2011 in einem Interview mit dem Fernsehsender TV5 Monde äußerten, verhallten in Frankreich noch weitgehend ungehört. 2013 erhob dann eine einflussreiche Gruppe ägyptischer Archäologen und Intellektueller in einer Petition an das ägyptische Kulturministerium Vorwürfe gegen den französischen Staat. Ahram Online berichtete darüber am 26. Februar 2013: Es handele sich um eine »schändliche Statue«, welche »die ägyptische Kultur herabsetze«. Der Vorsitzende des Tourismus- und Antiquitäten-Komitees der Revolutionären Ägyptischen Jugendorganisation, Omar el-Hadary, forderte gar ein Aussetzen aller französischen archäologischen Missionen in Ägypten, bis eine offizielle Entschuldigung des französischen Staates erfolgt sei. Als dann 2020 antirassistische Proteste auch in Frankreich zu Aktionen gegen öffentliche Monumente führten, wurden die Vorwürfe drastischer. Al-Monitor berichtete am 17. Juni 2020, die Ägyptologin Bassam el-Shammaa habe in einem Brief an die UNESCO die Forderung erhoben, Frankreich zur Entfernung der Champollion-Statue zu bewegen. In den Zitaten vergleicht Shammaa Champollions Fuß auf dem Pharaonenkopf mit dem Polizistenknie auf George Floyds Hals und spricht von einem Werk, das »Rassismus zum Ausdruck« bringe. Seit 2013 hatten hochrangigste politische Stellen in Ägypten Interventionen gegenüber der französischen Botschaft in Kairo und dem französischen Kulturministerium versprochen. Es sind jedoch keine Reaktionen bekannt geworden.

Außer jener, die aus dem Collège de France selbst kam: Bénédicte Savoy spricht in der Antrittsvorlesung ihrer Professur für Kulturgeschichte des europäischen Kunsterbes im März 2017 über das Entsetzen, das sie plötzlich überkam, nachdem sie »tausendmal« an der Statue vorbeigegangen sei. Zu sehr habe man sich an die Denkmäler gewöhnt, mit denen »die Dritte Republik unsere Städte zum Ruhme der Nation übersät hat«. Erinnert das ikonografische Programm den europäischen Blick nicht unmittelbar an Davids Fuß auf dem abgetrennten Kopf des Goliath? Savoy beschreibt dieses plötzliche »Sehen« als ein Ereignis im Sinne Walter Benjamins, der betont hatte, dass wir Verdrängtes oft erst sehen, nachdem wir uns seiner erinnert haben. Natürlich ist der Fuß auf dem Kopf unmittelbar symbolisch, Ausdruck von Macht. Nicht nur in einem islamischen Kontext, in dem der Schuh Ausdruck von Unreinheit ist, tritt ein Aspekt der Beschmutzung hinzu. Dabei steht der Pharaonenkopf, der Ramses II. darstellen könnte, in der Vorstellung seines Schöpfers Bartholdi nicht für ein abzuwertendes Vergangenes, sondern für Weisheit und das Kunstschöne schlechthin. In seinem Miniaturformat aber, der den romantischen Ruinendiskurs verlässt, in dem vor allem die eigene Vergänglichkeit betont wurde, hebt der abgetrennte Kopf vor allem die Größe des darauf Stehenden hervor. Hat so die Pose nicht etwas vom Bildprogramm des kolonialen Großwildjägers, der den Löwen respektiert, weil er ein echter Gegner ist, voller Kraft und Eleganz, ihn aber eben doch erlegt hat?

In der broschüreförmigen Ankündigung zu einem Seminar des Masterstudiengangs »Dynamics of Cultural Landscape, Heritage, Memory and Conflictualities« der Universitäten Lyon und St. Etienne hält der Kunsthistoriker Robert Belot diese Sichtweise für ein »Syndrom« und kündigt eine Aufklärung der Fehlinterpretation der Statue an. In einem kleinen Ankündigungstext schreibt er: »Dieser Fuß ist der Triumph des Willens zum Wissen; es ist der Erfolg der Wissenschaft im Dienst der Entdeckung der anderen Kulturen.« Dem mag man nicht widersprechen, es geht zweifellos um die Verbindung von Wissen und Welt. Nur dass die Statue nicht für einen Universitätsinnenhof, sondern für die imperiale Leistungsschau der französischen Weltausstellung von 1867 geschaffen wurde und auf eine Aneignung zielte, der zufolge Frankreich, auf seinem Weltreich stehend, das Wissen der Welt verkörpert: »Schaut her, wir haben Licht auf Ägypten geworfen, das moderne Ägypten, das sind wir!« Nation, Kulturerbe und Menschheit werden hier eins. Diese Zusammenhänge sind dabei schon in Champollions Reflexion des Alten Ägypten selbst virulent.

Champollions Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen gehört zu den großen Coups der Philologie. Um ihre Bedeutung heute zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass die Philologie im 19. Jahrhundert nicht als schöngeistige Veranstaltung aufgefasst wurde, sondern als Domäne der Untersuchung menschlicher Schöpferkraft und kultureller Leistungsfähigkeit. Früher als naturgeschichtliche Ansätze konnte sie den menschlichen »Geist« in den Sprachen, Zeichensystemen und Textarchiven der Welt aufschlüsseln. Bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts war sie daher eine Art Leitwissenschaft. Ihre historisch-vergleichende Methode galt als leistungsstark und erkenntnistheoretisch bahnbrechend für alle den Menschen betreffenden Wissensbereiche. Hard science, würden wir heute sagen, in einer Gesellschaft, die über die wesentlichen Fragen des Weltverstehens, der sozialen Verfasstheit und nationalen Zusammengehörigkeit in Form von aufgeschichteten Texttraditionen stritt. Die Lesbarkeit der Hieroglyphen öffnete nun die Tür weit in die Vergangenheit, hin zu den Anfängen menschlicher Kultur am Nil. Mit der sich langsam öffnenden Welt der tiefen Antike sollte die biblische Variante der Menschheitsgeschichte immer stärkere Konkurrenz bekommen, weshalb die Frage der Hieroglyphenentzifferung zum politischen Streitobjekt zwischen Republikanismus und Restauration avancierte.

Republikanischer Universalismus

Am 14. September 1822 stürzte Jean-François Champollion (1790–1832) in den Raum seines Bruders, rief »Je tiens l’affaire!« (»Ich hab’s!«) und verlor, vollkommen verausgabt, das Bewusstsein. So jedenfalls die Legende. Fest steht, dass er wenige Tage später seine bahnbrechenden Erkenntnisse über die ägyptischen Hieroglyphen vor der Pariser Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres vortrug. Alles, was wissenschaftlichen Rang und Namen hatte, wohnte dem Ereignis bei, das sofort zur Sensation wurde: Die ägyptischen Hieroglyphen, die jahrhundertelang im Dunkeln lagen, wurden wieder lesbar. Zwar stellte Champollion zunächst im Wesentlichen die lautliche Entzifferung pharaonischer und römischer Herrschernamen vor – so genannte Namenskartuschen –, die schon andere, insbesondere der Engländer Thomas Young, verstanden hatten.

Aber es besteht kein Zweifel daran, dass Champollion mit dem jahrhundertelangen Irrglauben von der symbolischen Bilderschrift als erster grundsätzlich aufgeräumt hat. Den strategischen Wunsch seines Bruders Jacques-Joseph, die Publikation des Vortrags an den Präsidenten der Akademie, den Orientalisten und mächtigsten Wissenschaftspolitiker der Restaurationszeit, den Baron Silvestre de Sacy, zu richten, lehnte er ab. So wird aus dem Text der berühmte Lettre à M. Dacier, der Brief an den Ständigen Sekretär Bon-Joseph Dacier, Hellenist und Direktor der Französischen Nationalbibliothek, der ein guter Freund seines Bruders war.