Rückkehr zum Rechtsglauben
Ein Versuch über die Voraussetzungen des Rechts von Andreas EngelmannEin Versuch über die Voraussetzungen des Rechts
Was passiert eigentlich, wenn niemand mehr glaubt? Wenn wir aufhören, uns den Versprechungen und Verheißungen hinzugeben, den Oberflächen und Narrativen, den Trugbildern und Fetischen? Eines ist klar: Wo nur noch »bare Münze« in Zahlung genommen wird, da herrscht Wirtschaftskrise. »In der Krise tritt die Forderung ein, dass sämtliche Wechsel, Wertpapiere, Waren auf einmal gleichzeitig in Bankgeld konvertibel sein sollen und dies sämtliche Bankgeld wieder in Gold«, schreibt Marx im dritten Band des Kapitals. Die allgemeine Konvertibilität verschiedener Waren-, Geld- und Kapitalarten, so lässt sich das Krisenphänomen entschlüsseln, ist die Voraussetzung für den Handel, es ist das, was ihn ermöglicht und »am Laufen« hält; sobald sie aber »ganz real« eingefordert wird, stellt sich ein Problem: Weil wirtschaftliches Funktionieren darauf beruht, dass Gegenstände zirkulieren und nie alles zugleich an jedem Ort sein kann, führt die Forderung, die Prämisse des Handels – allgemeine Konvertibilität – unter Präsenzbeweis zu stellen, zur Krise. Wollen alle ihr Geld am Bankautomaten ziehen, merken sie schnell, dass es nicht da ist. Um Handel treiben zu können, müssen die Bestandteile des Handels gegeneinander konvertibel sein, und der ständige Vollzug von Handelsbeziehungen beweist, dass sie es auf eine gewisse Weise auch sind. Wird der Beweis aber nicht mehr nur generell oder »in der Zukunft« verlangt, sondern jetzt und auf der Stelle eingefordert, misslingt er. Dieses Einfordern »jetzt und auf der Stelle« ist das, was ich Präsenz- oder Realbeweis nenne. Wo den Versicherungen und Vertröstungen auf zukünftige Leistung der Schleier heruntergerissen wird, finden wir keinen Goldschatz, sondern einen Kommunikations- und Transaktionsstopp. Es fehlt das, was die Welt »am Laufen« hält. Glaubensentzug heißt Kreditentzug, und Kreditentzug heißt Transaktionsstopp.
Verstehen wir die Krise als Kreditentzug und den Kreditentzug als Glaubensentzug, dann stellt sich die Frage, ob wir das überhaupt können: Können wir aufhören zu glauben? Was passiert, wenn Menschen anfangen, nach der Wirklichkeit hinter der Oberfläche zu suchen, hat Slavoj Žižek in den späten 1980er Jahren aus psychoanalytischer Perspektive beschrieben. Sein Schluss war, dass überhaupt nichts passiert, weil die Suche nach einem Grund unter der Oberfläche das Phantasma unberührt lässt, das die Erscheinungen strukturiert. Die Suche nach dem »Grund« bewirkt keinen Kreditentzug, weil sie auf der falschen Ebene ansetzt. Zwar käme es zur Krise, wenn viele Menschen ihr Geld aus dem Bankautomaten zögen, aber allein das Wissen darüber produziert noch nicht die Krise. Es fehlt der praktische Kreditentzug am Automaten. Das zynische Bewusstsein entzieht den Kredit nur scheinbar, solange wir mit unseren Handlungen für unseren Glauben einstehen. Sicher wissen wir, dass Papiergeld aus einer Druckerei kommt, in der Scheine bunt bedruckt werden. Jeder weiß, dass der Materialwert des Papiers keinem realen Wert entspricht, und es ist allgemein bekannt, dass Geldscheine ihren Wert durch Inflation verlieren können.
Dennoch setzen wir sie ganz alltäglich so ein, als hätten sie diesen Wert. Das meint Žižek, wenn er schreibt, dass unsere Handlungen »für uns glauben«. Indem wir etwas einsetzen, als hätte es diese oder jene Eigenschaft, hat es sie auch. Dieses Spiel funktioniert auch in die andere Richtung, wie sich an einem mäßig lustigen »Witz« aus dem sozialistischen Jugoslawien verdeutlichen lässt: Sicher weiß ich, hieß es dort, dass es nur Gerüchte sind, die sagen, dass es zu Versorgungsengpässen kommen wird. Aber die Leute glauben alles Mögliche und werden deshalb sicher bald in die Läden stürmen und sie leerkaufen. Deswegen gehe ich besser schnell los und besorge mir einen Vorrat an Toilettenpapier. Die Pointe, die der Witz nicht ausspricht, liegt auf der Hand: Es kommt tatsächlich zur Versorgungskrise, auch wenn alle wissen, dass ihr nicht mehr als nur ein Gerücht zugrunde liegt. Handlung und Glaube sind nicht synchron: Deswegen ändert es nichts, sich zynisch von seinem Handeln zu distanzieren. Deswegen erodiert aber auch das Vertrauen nicht bei jedem Kreditausfall oder Rechtsbruch. Žižek weist gegen die übliche Auffassung darauf hin, dass die Diskrepanz zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir glauben, nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.
Rechtsvertrauen
Am Grunde jedes sozialen Dings, wird es später noch einmal heißen, liegt ein Glaube, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Rechtsradikale Netzwerke innerhalb der Polizei, die Verschleierung von ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen unter der Leerformel der Privatautonomie oder eine vermeintliche »Aufgabe des Rechts« durch Grenzöffnung kratzen an diesem Glauben und bieten einen Vorwand, dem Recht seinen Kredit zu entziehen. Je nach eigenem Standpunkt bieten sich die passenden Tatsachen an, um die eigene Überzeugung mit Gründen auszustaffieren. Wenn ehemalige Verfassungsrichter wie Udo Di Fabio oder Hans-Jürgen Papier im Zuge der Diskussion um das Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik für Asylverfahren nach der Dublin-III-Verordnung die These popularisieren, dass der gesamte Verfassungsstaat »aus den Angeln gehoben« werde, liegt es nahe, das Vertrauen zu verlieren und auch in Rechtsangelegenheiten »bare Münze« zu verlangen: Eine Garantie dafür, dass das Recht noch das Recht ist, dass die Hoheitsträger Recht anwenden und es nicht auflösen. Wenn selbst hohe Funktionsträger des »Systems« so düstere Diagnosen verbreiten, wäre es da nicht naiv zu glauben, dass alles seine Richtigkeit hat?
Das Problem ist nur, dass es eine Rechtsgarantie nicht so einfach geben kann. Als Bedeutungsmedium ist Recht offen für Interpretation; es lässt sich nicht durch hoheitliche Siegel sicherstellen. Jedes Siegel, jede Unterschrift wirft selbst die Frage auf, ob sie eine Rechtshandlung oder einen Rechtsbruch sanktioniert. So ist Recht immer ein Ort, an dem um Bedeutung gestritten wird. Die Forderung, es müsse wieder Recht und nur das Recht herrschen, verlangt eine Eindeutigkeit, die es nicht geben kann, die aber die soziale Voraussetzung von Recht zersetzt: Vertrauen. Die Behauptung, dass der Verfassungsstaat »aus den Angeln gehoben« werde, ist deshalb kein sachlicher Beitrag zu einer rechtlichen Diskussion, der mehrere Antworten neben sich zulässt. Er ist in dem Sinne performativ, als er das Recht selbst »aus den Angeln hebt«; gerade die Behauptung, das Recht werde aufgelöst und müsse mit einem Messer zwischen den Zähnen verteidigt werden, führt aus dem Recht hinaus, weil sie den Glauben aufkündigt, der das Recht ermöglicht. Die implizite Behauptung, dass wir uns auf nichts mehr verlassen können, stellt nicht eine Tatsache fest, sondern produziert einen Sachverhalt, ein Misstrauen, das Recht unmöglich macht. Dieses Vertrauen kehrt auch dann nicht zurück, wenn eine große Zahl von Rechtswissenschaftlerinnen nachweist, dass ein Rechtsbruch nie erfolgt ist. Die Wirkung ist bereits eingetreten.
Wie aber sonst dem Glaubensverlust begegnen? Dafür ist ein kleiner Umweg nötig. Niklas Luhmann schreibt in Die Politik der Gesellschaft, dass die »politische Macht« letztendlich nur auf Zuschreibung beruhe, »oder anders gesagt: darauf, dass sie geglaubt wird«. Ohne diesen Glauben sei es nicht sonderlich gut um sie bestellt. Dagegen ist von Realistinnen und Realisten zu allen Zeiten eingewendet worden, dass diese Vorstellung »idealistisch« sei, dass die politische Macht geglaubt werde, weil sie Ämter besetzt und »die Medien« kontrolliert, weil sie das Militär losschickt und den Haftbefehl erlässt. Der Einwand lautet also, dass die politische Macht geglaubt wird, sofern sie »real« ist. Aber dieser Realismus steht auf sandigem Boden.