Heft 864, Mai 2021

Schluss mit der Schuldsteuer

Die Überarbeitung des postkolonialen Kanons von Sumana Roy

Die Überarbeitung des postkolonialen Kanons

In den Aufsätzen meiner Studierenden ist mir ein Muster aufgefallen. In ihrem Aufbau ähneln sie den Fabeln von Äsop. Am Ende braucht es offenbar immer eine Moral – eine Art Schlusswort wie ein Dankgebet nach einer Mahlzeit oder, wie man’s nimmt, eine Magentablette gegen Sodbrennen. Gelegentlich bemerke ich dasselbe in Gedichten, die abschließenden Zeilen müssen dafür herhalten, die vorangegangenen Zeilen zu rechtfertigen. Ich habe es »Moralitis« getauft. Ohne eine solche Moral von der Geschichte scheinen wir ratlos zu sein, wie sich die Existenz eines Texts legitimieren lässt.

»Warum seid ihr so misstrauisch gegenüber Genuss und Freude?«, wollte ich von Studenten und Studentinnen bei einer Videokonferenz wissen. Später fragte ich mich, ob das wohl auch wie eine moralische Frage geklungen hatte, aber ein paar von ihnen gaben bereitwillig Antwort. Was sie sagten, verriet, dass ihnen nicht ganz klar war, ob meine Frage als sanfter Tadel oder als Lob gemeint war.

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