Heft 871, Dezember 2021

Schwitters und Beuys: Stile der ästhetischen Weltverbesserung

von Lambert Wiesing

Kurt Schwitters’ und Joseph Beuys’ künstlerische Werke wurden bisher nicht allzu oft verglichen. In gewisser Hinsicht ist das auch nicht verwunderlich. Das Aussehen ihrer konkreten Arbeiten ermuntert nicht zu einem stilistischen Vergleich. Es ist das jeweils leitende Kunstverständnis, das diese Künstler zusammenrückt: Beide verteidigen einen erweiterten Kunstbegriff, der mit den Grenzen traditioneller Werkvorstellungen bricht. Glaubt man Schwitters und Beuys, so besteht die Aufgabe von Künstlern nicht in der Produktion von autonomen, abgezirkelten Werken, wie etwa Bildern oder Skulpturen, die sich gegenüber einer Wirklichkeit durch organische Geschlossenheit – durch Anfang, Mitte und Ende – auszeichnen.

Kunst produziert nicht Werke, sondern Werkzeuge; diese Formulierung von Bazon Brock trifft den Nagel auf den Kopf: Schwitters und Beuys verstehen Kunst als ein Werkzeug für höchste Zwecke, als Werkzeug, um den Menschen nichts weniger als ein besseres Leben auf Erden zu ermöglichen. Aus ihrer Sicht ist die Kunst sogar eine Art letzte Rettung, da die traditionellen Angebote zur Gestaltung eines guten und gelingenden Lebens aus Religion, Philosophie oder Politik jämmerlich versagt hätten, wie Schwitters insbesondere durch den Ersten und Beuys durch den Zweiten Weltkrieg belegt sehen.

Ihre radikale Skepsis gegenüber Ideologien jeglicher Art bringen Schwitters und Beuys dazu, zu forschen, zu überlegen und zu experimentieren, ob sich nicht das Autonomie-Ideal der Kunst ins Leben verlängern, auf die Gesellschaft übertragen ließe, ob nicht die Kunst einen Weg in eine bessere Zukunft weisen könnte. Dieses Forschungsprojekt – vielleicht wäre die Rede von Utopie treffender – nannte Kurt Schwitters »Merz« und Joseph Beuys »Soziale Plastik«. Beide Visionen versuchen die Produktion von autonomen, ausschließlich selbstbestimmten Werken auf das Leben zu übertragen; beide Weltanschauungen wollen, dass der Mensch autonom wird, indem sein Leben zu einem Teil in einem autonomen Gesamtkunstwerk wird. Das heißt aber auch: Anders als dies in der Avantgardeforschung oft behauptet wird, glauben beide Künstler eben nicht, dass durch eine Destruktion und Auflösung des Werkbegriffs die Autonomie der Kunst aufgegeben oder infrage gestellt würde.

Im Gegenteil: Sowohl Merz als auch der Sozialen Plastik geht es gleichermaßen um die Entfaltung und Ausbreitung künstlerischer Autonomie – im persönlichen Leben des Künstlers, beispielgebend für jeden. Beuys hat für die Soziale Plastik genau das gesagt, was Schwitters über Merz meint, nämlich dass »nur Merz […] befähigt [ist], einmal, in einer noch unabschätzbaren Zukunft die ganze Welt zu einem gewaltigen Kunstwerk umzugestalten«. So vergleichbar die Absichten von Schwitters und Beuys auch sind, mit ihren Auffassungen, was ein gelungenes Kunstwerk auszeichnet, liegen sie diametral auseinander – und dasselbe gilt für ihre Vorstellungen, was gemacht werden muss, damit sich im Sinn des erweiterten Kunstbegriffs das Leben zu einem Kunstwerk formt. »Formen« – das ist der kritische Punkt, an dem sich die Wege von Beuys und Schwitters scheiden.

Sinnbefreite Zonen

Im Mittelpunkt seiner Merz-Weltanschauung steht Schwitters’ Wortneuschöpfung: »entformeln.« Der Begriff bestimmt das Prinzip, wie in einer Collage Fundstücke und sonstige Dinge – Briefe, Bindfäden, Eintrittskarten usw. – verwendet werden. Seine These lautet: »Formen ist entformeln.« Damit ist gemeint, dass durch neuartige Formgebung beliebiger Gegenstände, die im Alltag etwas Zuhandenes für einen Zweck sind, diese zu etwas bloß Vorhandenem werden. Der Akt der Formung ist gezielt destruktiv: Er nimmt den verwendeten Teilen den Sinn, die Bedeutung und den Wert, die sie außerhalb der Collage haben, und lässt die Teile so für einen Betrachter der Collage nur noch als bloße Farbtupfer, als impressionistische Flecken erscheinen.

Ja, für Schwitters ist der Akt des Entformelns und damit das daraus entstehende Kunstwerk erst dann geglückt, wenn ein Betrachter der Collage erfreut feststellen kann: »Es gibt keinen Sinn mehr.« Man mag bezweifeln, dass das überhaupt möglich ist, doch der Glaube an die unendliche Kraft des Entformelns ist der Grundgedanke von Merz, wie Schwitters gleich im ersten Merz-Manifest von 1919 klargestellt hat: »Das Entformeln der Materialien kann schon erfolgen durch ihre Verteilung auf der Bildfläche. Es wird noch unterstützt durch Zerteilen, Verbiegen, Überdecken oder Übermalen.« Eine Kompositionstechnik soll dazu führen, dass einerseits die sichtbare Konstellation von Teilen einer Collage nicht zufällig und beliebig aussieht, doch andererseits eine rationale Erklärung für die jeweilige Konstellation scheitert und so nur noch die Farbigkeit der Teile als Grund für die jeweilige Komposition erlebt wird. Sie gilt für eine Birne, die auf einen Elefanten geklebt wird: »Dann ist der Elefant nur noch Farbe, und die Birne auch nur Farbe.«

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