Heft 879, August 2022

Seltsame Wissenschaft

von Michael D. Gordin

Vor rund zwanzig Jahren, ich hatte gerade meinen Abschluss in Wissenschaftsgeschichte gemacht, fing eine Freundin von mir an einer anderen Universität ihr Graduiertenstudium im selben Fach an. Als Undergraduate hatte sie eindrucksvolle Forschung in einem der nicht-so-seriösen Wissenschafts-Seitenzweige betrieben – Löffelbiegen, Schädelkunde, UFOs – und fragte sich, ob sie auf dem Gebiet weitermachen sollte. Ihr neuer Betreuer warnte sie: »Wenn du dich mit Parawissenschaft befasst, könnten die Leute denken, dass du selbst daran glaubst« (oder etwas dergleichen; ich war nicht dabei). Das war ganz klar ein wohlmeinender Ratschlag. Er kannte (und kennt) das ganze Feld außerordentlich gut und hatte völlig Recht. Abgesehen von einer kurzen Blüte in ein paar Untergebieten der Wissenschaftssoziologie, vor allem in den siebziger Jahren in Großbritannien, versprachen »anrüchige« Themen keinen Weg zum Ruhm.

Zwanzig Jahre später sieht das deutlich anders aus. Die Bücherregale biegen sich unter dem Gewicht von Büchern, die schräge Geschichten aus den Wissenschaften erzählen. So haben 2010 Naomi Oreskes und Erik M. Conway den Band Merchants of Doubt veröffentlicht, 2014 auf Deutsch als Die Machiavellis der Wissenschaft erschienen, der die Karrieren einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern verfolgt, die eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Theorien gespielt haben, die den schädlichen Einfluss des Tabakrauchs auf die menschliche Gesundheit leugneten oder den des sauren Regens auf die Umwelt oder den des menschengemachten Klimawandels auf was auch immer. (Inzwischen gibt es auch eine Film-Version dieses Buchs.) 2011 ist David Kaisers Buch How the Hippies Saved Physics erschienen, das von gegenkulturellen Physik-Studierenden aus den siebziger Jahren erzählt, die über Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit und andere quantentheoretische Fragen nachdachten, aber auch die Praxis halluzinogener Drogen erforschten.

2012 veröffentlichte ein weiterer Wissenschaftshistoriker, W. Patrick McCray, The Visioneers, eine detaillierte Studie über Raumkolonie- und Nanotechnologie-Enthusiasten (sowie den einen oder anderen Pornografen) in den siebziger und achtziger Jahren. Einzig die Nanotechnologie hat es aus den Außenbezirken in den Innenbereich der Materialwissenschaft geschafft. Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind keineswegs am Rand angesiedelt, auch ihre Bücher sind mitnichten marginal: Jedes von ihnen hat den Watson Davis und Helen Miles Davis-Preis für Wissenschaftsgeschichte erhalten, der für »Bücher der Wissenschaftsgeschichte, die sich an ein breites Publikum richten«, verliehen wird, und zwar 2011, 2013 und 2014.

Diese rasant gestiegene Aufmerksamkeit für die Randbereiche der Wissenschaft gibt es nicht nur im Luxussegment der Wissenschaftsgeschichte. Wer die Wissenschaftskommunikation in den letzten rund fünfzehn Jahren verfolgt hat, wird zahllosen Diskussionen darüber begegnet sein, was in den Wissenschaften eigentlich als »Pathologie« zu betrachten ist. Ein prominentes Beispiel ist die »Replikationskrise«, vor allem in der Psychologie und Biomedizin, also die einigermaßen schockierende Einsicht, dass viele der kanonischen Erkenntnisse der, sagen wir, Kognitionspsychologie oder Krebsgenetik sich nicht replizieren ließen. Da die Replizierbarkeit häufig als einer der wichtigsten Belege dafür hochgehalten wird, dass Wissenschaft verlässliches Wissen erzeugt, ist die weite Verbreitung dieses Problems wirklich besorgniserregend.

Darüber hinaus hat es in populären wie wissenschaftlichen Zeitschriften eine Vielzahl von Vorfällen wissenschaftlichen Betrugs oder Fehlverhaltens gegeben (in manchen Fällen nur berichtet, in anderen klar belegt): Jan Hendrik Schöns organische Halbleiter in den Bell Labs (2002), Victor Ninovs vermeintliche Entdeckung der Elemente 116 und 118 am Lawrence Berkeley Lab (2002), Hwang Woo-Suks Behauptung, er habe menschliche Embryo-Stammzellen geklont (2005), Marc Hausers evolutionspsychologische Entdeckung höherer Wahrnehmungsfähigkeiten bei den eher unscheinbaren Liszt-Affen (2010) und andere mehr. Neben diesen ungeheuerlichen Formen akademischen Fehlverhaltens gab es eine ganze Reihe weiterer, etwa Plagiate, Versuche, die Erfolgsmetriken durch falsche Zitate und Verbindungen zu beeinflussen und das Weißwaschen von durch die Industrie bereitgestellten Zahlen mittels Ghostwriting.

Wissenschaftler aus allen Bereichen haben sich zu Recht über solche Vorfälle empört, aber sie sind nicht die Einzigen, die über die gegenwärtige Wissenschaft schimpfen. Die Pandemie hat die Lautstärke deutlich erhöht: Heftigste Kritik erfahren die Centers for Disease Control and Prevention (die Behörde sei zu langsam, zu schnell, zu politisiert, zu politisiert in die falsche Richtung), heftige Kritik gibt es auch wegen Desinformation, Widerstand, Zögerlichkeit, Impfleugnung, Masken und Tests. Wie auch immer die offiziellen Richtlinien gerade lauten, es gibt jene, die »selbst nachgeforscht haben« und diese attackieren. (Manche dieser Angriffe stammen von anerkannten Wissenschaftlern, die mit wissenschaftlicher Forschung ihr Geld verdienen.) Das mag uns alles neu vorkommen, und ist es auch – allerdings nicht so neu, wie wir vielleicht denken.

Nehmen wir die Impfskepsis, nur zum Beispiel. Seit den 1990ern hat in den Vereinigten Staaten die Zahl der Eltern zugenommen, die ihre Kinder aus den einst verpflichtenden schulischen Impfprogrammen herausnehmen, unter Berufung auf religiöse oder sogar »philosophische« Vorbehalte gegen Impfungen, die in vielen Staaten anerkannt sind. Das hat Konsequenzen: Im letzten Jahrzehnt ist es zu periodischen Masernausbrüchen gekommen, manche davon gravierend. (Covid-19 ist schrecklich; Masern-Epidemien wären noch schrecklicher.) Die längste Zeit der amerikanischen Geschichte jedoch waren Impfungen eine vergleichsweise weit verbreitete öffentliche Gesundheitsmaßnahme. George Washington zum Beispiel traf die damals unpopuläre Entscheidung, seine Streitkräfte im Revolutionskrieg gegen die Pocken impfen zu lassen, was sich als äußerst erfolgreich erwies.

Ebenso sind problematische Gruppen an den Rändern der Wissenschaft schon lange Teil der US-Gesellschaft, auch wenn das, keine Frage, in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Nehmen wir die Flat-Earth-Theorie. Entgegen anderslautenden Annahmen hat nicht Christopher Columbus entdeckt, dass die Erde eine Kugel ist; das war seit der Antike bekannt. (Schon Plato schrieb darüber.) Die Vorstellung, dass Columbus, einer der wenigen gut informierten Seeleute, der nicht ganz an die Kugelform der Erde glaubte (er hielt sie für eiförmig), ihre Form »entdeckt« habe, war eine Erfindung des Schriftstellers Washington Irving, der auf diese Weise der kolonialistischen Eroberung den Anstrich wissenschaftlicher Legitimität zu geben versuchte. Im vergangenen Jahrzehnt jedoch hat die Flat-Earth-Theorie eine ganze Reihe von Anhängern gefunden, angestachelt von YouTube-Videos und einer Lust am grundsätzlichen Dagegensein, von Hyperskepsis und einer Sehnsucht nach Gemeinschaft.