Heft 851, April 2020

Sie, etc.

Zu Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie von Johanna Hedva

Zu Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie

Jede intelligente queere Person aus meiner Generation hatte eine Susan-Sontag-Phase, insbesondere diejenigen, die im Zeichen des Saturn geboren waren. Susan Sontag war unser Daddy. Sie brachte uns alles bei: was man lesen und was man sich ansehen sollte; wer wichtig war und warum man darüber Bescheid wissen sollte; was eine intellektuelle Autorität war; wie man diese Autorität ausstrahlte; dass man eine solche werden konnte. Und natürlich, was für eine Frisur man zu tragen hatte. Sie zeigte uns, dass man sich mit all diesen Dingen auseinandersetzen konnte, warum sich diese Auseinandersetzung lohnte und wie man sich der Sache mit der gebotenen Ernsthaftigkeit annahm.

Sie machte Ernsthaftigkeit cool. Sie machte Snobismus sexy. Sie war der einzigartige Archetyp der (und des) amerikanischen public intellectual im 20. Jahrhundert. Sie war New York City. Sie war das Zentrum der Welt. Sie war Artaud, Bresson, Sebald, Cioran, Canetti und Weil. Sie rauchte in Bars mit deinen Freunden, redete bis zum Morgengrauen und war ganz hingerissen von der Vorstellung, dass sie die Hochkultur so promiskuitiv gemacht hatte. Sie war die sachkundige, differenzierte Meinung, mit der man auf Partys die Umstehenden beeindruckte. Und zwar zu jedem erdenklichen Thema: wie camp alles, womit es in Kontakt kommt, mit Anführungszeichen versieht (»nicht eine Lampe, sondern eine ›Lampe‹, nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹«, lautet einer ihrer berühmtesten Sätze); warum wir eine Erotik der Kunst brauchen; inwiefern das Reden über Krankheit oft zur Lüge wird. Ihr Name stand für diese langsamen fremdsprachigen Filme in Schwarzweiß, die man sich als Pärchen ansah, und wenn die Andere während dieser Filme einschlief, ahnte man bereits: Das wird wohl nichts mit uns beiden. Natürlich verlor sie, wie jeder Daddy, je älter man wurde, ihre Notwendigkeit. Sie wurde zur Verkörperung der Person, die du früher einmal hattest sein wollen. Die eigene Verehrung, so stellte sich heraus, war nicht mehr als die affektierte Vorwegnahme der Person, die man erst noch werden musste. Und dann, als das 21. Jahrhundert in die Prekarität der Jahre nach 2008 hineinstolperte, in die Snapchat-Zeitspannen und die Klimakatastrophe, wurde einem klar, dass Cioran und Canetti nicht länger von Bedeutung waren. Das moralische Streben nach der perfekten Seele – eine klassische Messlatte, die Sontag sowohl an sich selbst als auch an die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anlegte – war nicht nur aussichtslos und möglicherweise fehlgeleitet, sondern schlicht irrelevant. Was nützt eine perfekte Seele, wenn die Welt untergeht?

Auch wenn wir, die wir von Sontag großgezogen wurden, irgendwann über sie hinauswuchsen, war sie doch die Erste, die uns beim Heranwachsen half, und damit hat sie uns tief geprägt. (Mir ist aufgefallen, dass Menschen, die nur ein paar Jahre jünger sind als ich, ganz andere Daddys haben. Ich bin Jahrgang 1984 und zähle damit wahrscheinlich zum letzten Jahrgang, der von ihr aufgezogen wurde – die generationenübergreifende Gruppe von Menschen, die zwischen 1954 und 1984 das Licht der Welt erblickten. Sontag selbst wurde 1933 geboren.) Sontag war mehrere Jahre lang mein Daddy, in der Zeit, als ich, eine in ihre eigene Gedankenwelt vertiefte Queerperson aus einer südkalifornischen Arbeiterfamilie, unter dem wachsamen Auge des Saturn das Verlangen entwickelte, mich kulturell zu bilden. Selbst eines Tages Kultur hervorzubringen schien der einzige Weg, irgendwo hinzugelangen, wo es anders war als dort, wo ich herkam. Für mich als Korean American der zweiten Generation war mein Ehrgeiz keine Frage des Egos, sondern des Überlebens, er war mein Ticket nach draußen – und damit dem von Sontag gar nicht so unähnlich, die als jüdisches Mädchen 1933 in eine kultur- und bildungsferne Mittelschichtsfamilie geboren wurde, auf die North Hollywood High School ging und sich danach sehnte, Teil der europäischen Geisteselite zu sein. Als ich die Geschichte hörte, wie Sontag als Kind in einem Schreibwarengeschäft in Tucson die Buchreihe Modern Library für sich entdeckte – sie las hingebungsvoll die Klassiker von vorne bis hinten durch und setzte nach jeder Lektüre ein Häkchen hinter die im Katalog aufgelisteten Titel –, wurde mir klar, dass es möglich war, allein durch unbändige Lust und Neugier die Person zu werden, die ich sein wollte – und dass ich nicht den Weg gehen musste, der mir vorgezeichnet war.

Sontag, kanonisch

Ich entdeckte Sontag als Teenager in den späten 1990er Jahren, aber welches ihrer Bücher ich zuerst gelesen habe, weiß ich nicht mehr. Das liegt auch daran, dass sie so viel mehr war als ihre Bücher. Das erste Mal, und ich bin sicher nicht die Einzige, der es so geht, begegnete mir Sontag als Bild. Diese Haare! Und diese großen, unerschrockenen schwarzen Augen, dieser herausfordernde, autoritäre Blick. Er passte zur Stimme, die aus ihren Essays sprach: verschlossen, glamourös, souverän. Ich war nicht nur überwältigt von der Bandbreite ihrer Themen – diese Bitch hatte zu allem etwas zu sagen! –, sondern auch von der Tatsache, dass sie über viele der Schriftsteller, Filmemacher und Künstler schrieb, die mir später viel bedeuteten. Ihre Tagebücher, die nach ihrem Tod im Jahr 2004 veröffentlicht wurden, standen in meinem Regal neben denen von Virginia Woolf und Sylvia Plath. Woolf, Plath und Sontag: Für jedes Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hatte, Schriftstellerin zu werden, war das der Kanon. Für eine queere Person wie mich, die schreiben wollte, sich aber nicht als Mädchen identifizierte, gewährte Sontag Einlass zu einer Pforte, von der man hoffte, sie würde existieren, die man aber nie allein gefunden hätte.

Man war auf jemanden angewiesen, die den Weg zu dieser Pforte kannte. In Sachen (kosmopolitischer) Coolness war Sontag Woolf oder Plath um Lichtjahre voraus – sie führte Beziehungen mit Lucinda Childs und Jasper Johns und Annie Leibovitz, sie hatte über Jack Smith geschrieben und Paul Thek ein Buch gewidmet. Aber was Woolf, Plath und Sontag gemeinsam hatten, war ein Vermächtnis, das über die von ihnen geschriebenen Bücher weit hinausging. Sie erlangten nicht nur Ruhm zu Lebzeiten, sondern ein echter Mythos umgibt sie fortan – mit allem, was dazugehört: ikonische Fotoporträts, Twitter-Bots, sofort wiedererkennbare Zitate, biografische Mini-Industrien, die im Schatten dieser Frauen entstanden. Ich weiß mehr über Sontags Leben – ihre Freunde, Liebhaber, denkwürdigsten Äußerungen – als über ihre Werke. Obwohl ich fast alle ihre Bücher gelesen habe, sind sie nicht immer so einprägsam wie die Mythen, die sich um sie ranken. Ihre Texte können sich anfühlen wie etwas, das man verschrieben bekommen hat, weil es gut für einen ist, obwohl es nicht unbedingt großartig schmeckt. Geschichten über sie zu erzählen macht viel mehr Spaß. Wie wär’s mit der Anekdote, dass die fünfzehnjährige Teenagerin Susan in ihrem Kinderzimmer einer Klassenkameradin die wesentlichen Gedankengänge von Kants Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzte? In der neuen Biografie Sontag: Her Life and Work kann man sich an solchen Begebenheiten nicht sattlesen. Meine derzeitige Lieblingsgeschichte: Wie Jasper Johns Sontag nach der Trennung seine Wohnung überlässt. Die Wände sind bedeckt mit Skizzen für seine Gemälde. Und Susan lässt sie alle überstreichen.

Schon vor der Publikation der neuen Biografie war die Mythenbildung um Sontag ein lukratives Gewerbe, das von Klatsch und Tratsch bis hin zu hochtrabenden exegetischen Wälzern reichte. Trotz (oder wegen) dieser publizistischen Umtriebigkeit habe ich das Gefühl, ich hätte mein ganzes Leben auf diese Lebensbeschreibung gewartet – die autorisierte, endgültige Biografie. In Sontags Tagebüchern (die 2008 und 2012 veröffentlicht wurden) gab es ungeheuer viel Neues zu entdecken: ihre endlosen Listen, die Entwürfe für ihre berühmtesten Essays, daneben peinliche Auslassungen über Liebeskummer und zerstörerischen Selbstzweifel. Die Tagebücher läuteten die nächste Phase in der Deutung ihres Werks ein, mit jeder neuen Abhandlung zu ihrem Vermächtnis mehrte sich ihr Einfluss. Es dauerte nicht lange, bis jüngere Autoren (einschließlich meiner selbst) Essays in Form von durchnummerierten Listen verfassten, ein Genre, das Sontag wenn nicht erfunden, so doch nobilitiert hat.

Unglaublicher Materialberg

Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war, als ich vor Jahren hörte, eine offizielle Biografie sei in Arbeit. Der Autor, so hieß es, sei Benjamin Moser, auserkoren von David Rieff, Sontags Sohn, und ihrem Agenten Andrew Wylie. Moser würde in einem Ausmaß Zugang zu Sontags Archiv erhalten wie niemand zuvor und somit Einblick in Dokumente bekommen, die noch für Jahrzehnte unter Verschluss bleiben werden. Ein großer Teil des Archivs ist bereits öffentlich zugänglich, vieles davon ist so persönlich wie dekuvrierend, weswegen es mich stutzig machte zu erfahren, dass es noch weitere vertrauliche, bislang unzugängliche Unterlagen gibt. Ich fragte mich, ob diese Archivalien mit neuen Enthüllungen aufwarten könnten, denn schon die Tagebücher nahmen noch das kleinste Detail ihrer vielen wunden Punkte unter die Lupe. Ich wollte wissen, was es mit Moser auf sich hatte, dass er derart ins Vertrauen gezogen wurde. Damals kam ich frisch von der University of California in Los Angeles (UCLA), wo ich jeden Tag zu Lehrveranstaltungen in ein Gebäude gegangen war, das sich direkt neben der Bibliothek befindet, die das Sontag-Archiv beherbergt. Selbst die Tatsache, dass ich ein stipendienfinanziertes Studium an der UCLA absolvieren konnte, war dem Einfluss von Sontag geschuldet. Ihr Lebensweg hatte mich davon überzeugt, dass auch ich es schaffen konnte.

Nun liegt die 800 Seiten starke – weit ausgreifende, sich manchmal in Details verlierende – Biografie vor: ein Werk, das Anlass zur Skepsis bietet und streckenweise enttäuscht. Zu den Umständen seines Erscheinens gehören die Plagiatsvorwürfe von Magdalena Edwards, Benjamin Moser habe für seine zuvor veröffentlichte Clarice-Lispector-Biografie Material von meist brasilianischen Wissenschaftlerinnen ohne Nennung der Quellen verwendet und führe sich Kollegen gegenüber wie ein narzisstischer Tyrann auf. In der Los Angeles Review of Books schilderte Edwards, wie ihre Übersetzung eines Lispector-Romans, bei der Moser als Herausgeber fungierte, verworfen wurde, weil sie Moser zufolge zu wünschen übrig ließ. Moser servierte Edwards ab, riss das Projekt an sich und machte sich prompt zum »Mitübersetzer«. Auf Twitter flackerte daraufhin kurz Unmut auf, der an #MeToo erinnerte, zumal eine andere Übersetzerin, Susan Bernofsky, ebenfalls auf Twitter von ihren Erfahrungen mit Moser berichtete und andere vom Biografen und seinem Verleger eine Stellungnahme forderten (es kam aber keine, und der Unmut hat sich seitdem allem Anschein nach gelegt).