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Zu Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie von Johanna HedvaZu Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie
Jede intelligente queere Person aus meiner Generation hatte eine Susan-Sontag-Phase, insbesondere diejenigen, die im Zeichen des Saturn geboren waren.1 Susan Sontag war unser Daddy. Sie brachte uns alles bei: was man lesen und was man sich ansehen sollte; wer wichtig war und warum man darüber Bescheid wissen sollte; was eine intellektuelle Autorität war; wie man diese Autorität ausstrahlte; dass man eine solche werden konnte. Und natürlich, was für eine Frisur man zu tragen hatte. Sie zeigte uns, dass man sich mit all diesen Dingen auseinandersetzen konnte, warum sich diese Auseinandersetzung lohnte und wie man sich der Sache mit der gebotenen Ernsthaftigkeit annahm.
Sie machte Ernsthaftigkeit cool. Sie machte Snobismus sexy. Sie war der einzigartige Archetyp der (und des) amerikanischen public intellectual im 20. Jahrhundert. Sie war New York City. Sie war das Zentrum der Welt. Sie war Artaud, Bresson, Sebald, Cioran, Canetti und Weil. Sie rauchte in Bars mit deinen Freunden, redete bis zum Morgengrauen und war ganz hingerissen von der Vorstellung, dass sie die Hochkultur so promiskuitiv gemacht hatte. Sie war die sachkundige, differenzierte Meinung, mit der man auf Partys die Umstehenden beeindruckte. Und zwar zu jedem erdenklichen Thema: wie camp alles, womit es in Kontakt kommt, mit Anführungszeichen versieht (»nicht eine Lampe, sondern eine ›Lampe‹, nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹«, lautet einer ihrer berühmtesten Sätze); warum wir eine Erotik der Kunst brauchen; inwiefern das Reden über Krankheit oft zur Lüge wird. Ihr Name stand für diese langsamen fremdsprachigen Filme in Schwarzweiß, die man sich als Pärchen ansah, und wenn die Andere während dieser Filme einschlief, ahnte man bereits: Das wird wohl nichts mit uns beiden. Natürlich verlor sie, wie jeder Daddy, je älter man wurde, ihre Notwendigkeit. Sie wurde zur Verkörperung der Person, die du früher einmal hattest sein wollen. Die eigene Verehrung, so stellte sich heraus, war nicht mehr als die affektierte Vorwegnahme der Person, die man erst noch werden musste. Und dann, als das 21. Jahrhundert in die Prekarität der Jahre nach 2008 hineinstolperte, in die Snapchat-Zeitspannen und die Klimakatastrophe, wurde einem klar, dass Cioran und Canetti nicht länger von Bedeutung waren. Das moralische Streben nach der perfekten Seele – eine klassische Messlatte, die Sontag sowohl an sich selbst als auch an die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anlegte – war nicht nur aussichtslos und möglicherweise fehlgeleitet, sondern schlicht irrelevant. Was nützt eine perfekte Seele, wenn die Welt untergeht?
Auch wenn wir, die wir von Sontag großgezogen wurden, irgendwann über sie hinauswuchsen, war sie doch die Erste, die uns beim Heranwachsen half, und damit hat sie uns tief geprägt. (Mir ist aufgefallen, dass Menschen, die nur ein paar Jahre jünger sind als ich, ganz andere Daddys haben. Ich bin Jahrgang 1984 und zähle damit wahrscheinlich zum letzten Jahrgang, der von ihr aufgezogen wurde – die generationenübergreifende Gruppe von Menschen, die zwischen 1954 und 1984 das Licht der Welt erblickten. Sontag selbst wurde 1933 geboren.) Sontag war mehrere Jahre lang mein Daddy, in der Zeit, als ich, eine in ihre eigene Gedankenwelt vertiefte Queerperson aus einer südkalifornischen Arbeiterfamilie, unter dem wachsamen Auge des Saturn das Verlangen entwickelte, mich kulturell zu bilden. Selbst eines Tages Kultur hervorzubringen schien der einzige Weg, irgendwo hinzugelangen, wo es anders war als dort, wo ich herkam. Für mich als Korean American der zweiten Generation war mein Ehrgeiz keine Frage des Egos, sondern des Überlebens, er war mein Ticket nach draußen – und damit dem von Sontag gar nicht so unähnlich, die als jüdisches Mädchen 1933 in eine kultur- und bildungsferne Mittelschichtsfamilie geboren wurde, auf die North Hollywood High School ging und sich danach sehnte, Teil der europäischen Geisteselite zu sein. Als ich die Geschichte hörte, wie Sontag als Kind in einem Schreibwarengeschäft in Tucson die Buchreihe Modern Library für sich entdeckte – sie las hingebungsvoll die Klassiker von vorne bis hinten durch und setzte nach jeder Lektüre ein Häkchen hinter die im Katalog aufgelisteten Titel –, wurde mir klar, dass es möglich war, allein durch unbändige Lust und Neugier die Person zu werden, die ich sein wollte – und dass ich nicht den Weg gehen musste, der mir vorgezeichnet war.