Silos systematisch aufbrechen
Gespräch über Friedrich Kittler von Guido GrafGespräch über Friedrich Kittler
»Unter technologischen Bedingungen verschwindet die Literatur […] im Untod ihres endlosen Verendens.« So steht es, fast am Ende, geschrieben in Friedrich Kittlers Aufsatz Draculas Vermächtnis von 1982. Zusammen mit anderen Texten aus dieser Zeit findet er sich im ersten erschienenen Band der Werkausgabe Kittlers. Mit den technologischen Bedingungen der Digitalität setzt sich die Ausgabe auseinander und modelliert neue Standards, wie mit Archiv und Gedächtnis umgegangen werden kann. Daher lohnt es sich, gemeinsam darüber nachzudenken, wie das endlose Verenden der Literatur und des Schreibens über Literatur und andere Medien gestaltet werden können. Am 26. September 2022 habe ich das in einem Gespräch versucht. Teilgenommen haben Moritz Hiller, Medienwissenschaftler an der Bauhaus-Universität Weimar und Mitherausgeber der Werke Kittlers; Susanne Holl, die Kittler noch während seiner Lehrtätigkeit in Bochum kennenlernte und 1995 heiratete; Kathrin Kur von der Data Futures GmbH, einem Nonprofit-Unternehmen aus Leipzig, das die technische Infrastruktur für die Edition entwickelt; Tom Lamberty, dem Verleger von Merve, wo die Kittler-Ausgabe erscheint; Martin Stingelin, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Dortmund und ebenfalls Mitherausgeber der Werkausgabe.
Graf: Ich habe davon gehört, dass eine Werkausgabe von Friedrich Kittler in Arbeit ist. Als ich die Ankündigung von Merve gesehen habe, dass der erste Band erscheint, war ich erst mal verwirrt über den Titel I.B.4 und habe dann, als ich das Buch in den Händen hielt, bei einem Text gedacht, in dem es um das Schreien auf Bühnen, Platten und Papieren geht: Den hätte ich damals kennen müssen, als ich mit Friedrich Kittler in einem Café in Berlin-Tempelhof gesprochen habe. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er damals wohnte, haben wir in einem Lokal zusammengesessen, im Hintergrund lief Karnevalsmusik, und wir sprachen für ein Hörstück, an dem ich gearbeitet habe, über das Schreien.
Holl: Es ging um Literaturgeräusche, nicht wahr? Ich wollte ohnehin fragen, ob dieses Interview tatsächlich zustande kam und ob es gesendet wurde. Damit hängt nämlich auch eine erste Antwort auf eine noch nicht einmal gestellte Frage zusammen, warum das eigentlich so lange dauert. Wir müssen sehr, sehr viel aus dem Nachlass aufarbeiten. Dazu gehören viele Korrespondenzen, aus denen wir dann erst erfahren, dass es so ein Interview von Guido Graf mit Friedrich Kittler gegeben hat.
Graf: Das ist tatsächlich gesendet worden. Allerdings nur Teile daraus, in einem Feature. Wir konnten damals nicht in der Wohnung sprechen, weil die Handwerker im Haus waren. Aber die Radiobedingungen waren durch die Hintergrundmusik auch in der Gaststätte nicht gerade ideal. In Bezug auf den Gegenstand unseres Gesprächs war gerade das aber auch interessant. Das war meine erste Begegnung mit Kittler. Nach seinem Tod habe ich kaum noch etwas von Kittler gelesen. Aber als ich jetzt, im Jahr 2022, den ersten Band der Werkausgabe in den Händen hielt, habe ich mich gefragt, will ich noch mal Kittler lesen? Diese Frage würde ich aber gerne an Sie alle zurückgeben. Warum jetzt Kittler lesen?
Stingelin: Seit Ende der 1970er Jahre, als er zum ersten Mal publizistisch in Erscheinung getreten ist, hat Friedrich Kittler eine bis heute anhaltende Aktualität in mehrfacher Hinsicht bestritten, behauptet, verkörpert. Er hat die Germanistik überrascht, indem er nachfragte, was es eigentlich bedeutet, dass Texte geschrieben worden sind. Nicht immer mit Feder und Tinte, früher mal auch in Stein gemeißelt. Irgendwann gab es eine Mechanisierung des Schreibens durch die Erfindung der Schreibmaschine, dann eine Digitalisierung des Schreibens. Kittler war der Erste, der, indem er dies reflektiert hat, die Germanistik in die Medienwissenschaft überführte. Die Welt ist bis heute darüber überrascht, und zwar vollkommen zu Recht. Wie konnte er dies tun?
Und das ist der zweite Schritt, den ich hier hervorheben möchte. Er war einer der Allerersten, der die french theory Deutschland vermittelt hat durch seine auch übrigens im wörtlichen Sinne Übersetzungstätigkeit. Allen voran Jacques Lacan, dann aber auch Michel Foucault. Diese Denker wären bei uns entschieden verspätet angekommen, wenn Friedrich Kittler nicht Ende der 1970er Jahre schon begonnen hätte, ihr Werk nach Deutschland zu vermitteln. Und dann aber: Warum lese ich ihn überhaupt? Kittler war ein Stilist von Gnaden. Ich glaube, es gibt keinen Satz, den dieser Mann ohne Stilbewusstsein geschrieben hat.
Hiller: Weil man, glaube ich, festhalten kann, dass die methodischen Ansätze, die Themen und überhaupt die Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben, die mit dem Namen Friedrich Kittler verbunden sind, heute als eine Selbstverständlichkeit in den deutschsprachigen Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften gelten können, würde ich sagen, dass es umso wichtiger ist, dieses Denken und Schreiben zu historisieren. Nicht in dem Sinn, sie ad acta zu legen, sondern sie in dem Umfeld zu betrachten, in dem sie möglich wurden, die Umstände zu dokumentieren, unter denen sie sich entfalten konnten und entfaltet haben. Das ist ein weiterer Grund, Kittler heute und in Zukunft noch zu lesen, auf eine auch historisierende Art und Weise. Meine Hoffnung ist, dass die Werkausgabe ein Instrument für diese Historisierung sein kann.
Holl: Man kann Kittler aber auch einfach lesen, weil es Spaß macht. Gerade wenn ich jetzt im ersten Band der Werkausgabe Draculas Vermächtnis wiederlese, muss ich heute immer noch lachen. Das hat mich von Anfang an an Friedrich Kittler fasziniert. Ich kann nicht sagen, wie dieses Stilbewusstsein mit seinen Theorien und seiner Wissenschaft zusammenhängt. Der Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach dokumentiert aber auf eine wirklich faszinierende und fast erschlagende Weise, wie dieser Mann sich das Schreiben beigebracht hat. Wie er die Typoskripte ausgearbeitet hat. Wie er sowohl im Stilistischen als auch im Tippen, ja die ganzen Organisationsformen von Wissen sich über Jahrzehnte erarbeitet hat.
Graf: Ich finde es gut, dass Sie Spaß sagen. Für mich war das genau der Punkt, warum ich angefangen habe, Kittler zu lesen. Ich habe meine Dissertation über Briefkommunikation am Beispiel eines Briefwechsels geschrieben. Gerade hatte ich die Aufschreibesysteme gelesen und Kittler daraufhin angeschrieben. Er hat mir prompt geantwortet und mich an seinen damaligen Doktoranden Bernhard Siegert verwiesen, der gerade seine Dissertation, das Relais-Buch eingereicht hatte. Das habe ich gelesen, und es hat mir viele Türen und Fenster geöffnet. Der ganze germanistische Staub auf all den Briefeditionen wurde von Kittler und Siegert aufgewirbelt. Diese Lektüren haben mich aus der ewigen Friedensfeier-Lektüre in den Oberseminaren bei Jost Schillemeit katapultiert. Jetzt ist für mich interessant, was eigentlich noch taugt von der damaligen Begeisterung? Wie sieht es mit der heutigen Relevanz Kittlers aus? Auch etwa für meinen Kontext am Literaturinstitut Hildesheim, an der sogenannten Schreibschule. Wie integriert sich eigentlich das Schreiben von Friedrich Kittler in das, was seitdem auch in der Medienwissenschaft, in der Literaturtheorie etcetera passiert ist.
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