Heft 914, Juli 2025

Soziale Farbe (II)

Farbe an der Arbeit von Timon Beyes

Farbe an der Arbeit

I

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine kleine schottische Industriesiedlung, zwischen Edinburgh und Glasgow gelegen, zu einem Wallfahrtsort für europäische Industrielle. In New Lanark gab es ein Sozialexperiment zu besichtigen, das heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Unter der Leitung des Sozialreformers und späteren Frühsozialisten Robert Owen wurde in den Mühlen, Produktionshallen und Arbeiterwohnungen der Baumwollspinnerei ein anderes Arbeitsleben erprobt, das einen Ausweg aus den Zuständen industrieller Ausbeutung und den Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien bedeuten sollte. Dies beinhaltete unter anderem kürzere Arbeitszeiten, die bis auf acht Stunden pro Tag gesenkt wurden, ein Verbot von Kinderarbeit unter zehn Jahren, eine Infrastruktur medizinischer Versorgung, einen billigen Dorfladen und nicht zuletzt Bildungsmaßnahmen.

Die Produktion selbst war durch neue Verfahren der Standardisierung, Überwachung und Kontrolle gekennzeichnet. Dabei stach ein Apparat hervor, der offenbar von Owen erfunden wurde: der Silent Monitor, intern auch »telegraph« genannt. Das stille Kontrollgerät – »monitor« kommt aus dem Lateinischen und bezeichnete eine Aufseherin oder einen Ermahner – kommunizierte durch Farbe, ohne Worte. Telegrafisch ermöglichte es ein vor-elektronisches Schreiben – oder vielmehr ein atmosphärisches Färben, aus der Ferne. Die stummen Monitore waren kleine Holzblöcke, gut 5 Zentimeter lang und 2,5 Zentimeter breit, die über den etwa 2500 Arbeitsplätzen aufgehängt waren (und die heute als ironisches Accessoire für den Arbeitsplatz oder das Homeoffice in New Lanarks Geschenkeladen erworben werden können). Jede der vier Seiten des Apparats war in einer Farbe gestrichen: weiß, gelb, blau und schwarz. Die Farben sollte nicht allein Produktivität, sondern Verhalten markieren: Schwarz stand für übermäßige Ungezogenheit (»exceeding naughtiness«), blau für neutrales Benehmen (»a neutral state of morals«), gelb für mäßige Güte oder Tugend (»moderate goodness«) und weiß für exzellentes Betragen (»excellence in conduct«). Von den Aufsehern wurden die Blöcke täglich entsprechend dem Verhalten jedes Arbeiters am Vortag angeordnet und die Ergebnisse in die »Books of Character«, die Charakter- oder Eigenschaftsbücher, eingetragen, die für jede Abteilung vorlagen.

Mit dem Einsatz von Farben, so Owens Annahme, ließ sich Arbeitsbenehmen kontrollieren und Charakter formen, ohne dass Worte von Vorgesetzten vonnöten wären (und ohne Prügelstrafe, die ebenfalls abgeschafft wurde). Nicht einmal seine Präsenz sei noch nötig gewesen, behauptete er; diese Arbeit hätten Apparatur und Farbschema übernommen. Bei einem Besuch im Jahr 1823 staunte der französische Journalist Marc-Antoine Jullien, dass die meisten Monitore gelb und weiß waren und dass es »in diesen Fabrikräumen, in denen so viele Menschen versammelt waren, so wenige Beschwerden gab und disziplinarische Aufsicht so lax gehandhabt wurde«. Die bloße Präsenz des hölzernen Apparats und seine Farbgebung reichten aus, so scheint es. Die Aufsichtsdisziplin konnte lax sein, weil die Arbeitsdisziplin verinnerlicht und Alltagsverhalten geworden war. Apparatur und Medium der Farbe regierten und regulierten die arbeitenden Körper. Und aus New Lanark lässt sich der Bogen schlagen hin zu bunten, vermeintlich kreativitätsfördernden Arbeitsräumen der Gegenwart und den chromatischen Versprechungen, für Leistungskontrolle und produktive Stimmung am Arbeitsplatz zu sorgen.

II

Aufgrund seiner späteren genossenschaftlichen und kommunalen Experimente gilt Owen gleichermaßen als utopischer Sozialist wie auch als Pionier des Personalmanagements und der betriebswirtschaftlichen Menschenführung. (Vielleicht sollte dieser Zusammenhang mit Blick auf Lenins hundert Jahre später dokumentierte Verehrung des scientific management nicht verwundern.) Unter seiner Ägide entstanden Praktiken und Technologien der Überwachung, Motivation und Zusammenarbeit, die heute ebenso selbstverständlich sind wie die Abhängigkeit dieser Praktiken und Technologien von Farbschemata. Wiedergänger des Silent Monitor und seiner Idee der farbcodierten Erhebung und Übermittlung von Leistungs- und Kontrolldaten finden sich in unterschiedlichen Spielarten von Arbeitsablaufdiagrammen, Leistungsmesssystemen und scorecards, bei denen anstelle von schwarz-blau-gelb-weiß eher die Ampelfarben rot, gelb und grün präferiert werden, um den Status von Zielerreichung und Leistung zu signalisieren. Ob in Verbindung mit Holzklötzen, Papierkarten oder softwarebasierten Ordnungssystemen, Farbe wird hier zu einer alltäglichen Ordnungstechnologie der Identifizierung, Differenzierung, Kontrolle und Kommunikation.

Aus Sicht einer Farbsemiotik kann das nicht überraschen. Die Farbe ist ein herausragendes Kommunikationsmittel, eine vielleicht konkurrenzlose semiotische Ressource in Form von an Farbtöne gekoppelte Zeichen, die kontinuierlich spezifische Bedeutungen übertragen. Owen war in diesem Sinne ein Pionier der semiotischen Managementpraxis, bestimmte Farbtöne einzusetzen, um klare Botschaften zu vermitteln, ohne dass die Managerin, wenn wir Owen glauben, auch nur den Mund aufmachen oder gar präsent sein müsste. Die kleinen Holzklötze vereinten semiotisch gesprochen die ideelle und die zwischenmenschliche Funktion der Farbe: Sie kommunizierten spezifische Ideen, indem sie die Arbeiter in vermeintlich kohärente Kategorien von ungezogen bis exzellent einteilten; und sie übernahmen eine zwischenmenschliche Signalwirkung in Form ihrer Anrufungen von Mahnung, Ermutigung und Lob.

Weitere Artikel des Autors