Soziale Farbe (IV)
Haut von Timon BeyesHaut
I
Seit 2012 sammelt und dokumentiert das Humanæ-Projekt der brasilianischen, in Spanien ansässigen Fotografin Angélica Dass Hautfarben. 4500 Personen aus über 20 Ländern haben sich bisher gemeldet, um ihr Porträt – Kopf, Hals und Schultern – vor einem neutralen Hintergrund aufnehmen zu lassen. Die Fotografin entnimmt jedem Foto ein digitales Farbsample der Nase, das mit der standardisierten Farbpalette Pantones (mit seinen über 2000 Einzeltönen das dominante Unternehmen des globalisierten, kommerziellen Farbhandels) abgeglichen wird. Mittels dieses industriellen Farbschemas wird jeder Person ein Pantone-Farbton zugeordnet. Zudem wird der Bildhintergrund in der Nasen- beziehungsweise Pantone-Farbe eingefärbt, und jedes Porträt erhält als Bildunterschrift die entsprechende Pantone-Nummerierung.
Die visuelle Strenge der Aufnahmen erinnert an die freudlose Kopf- und Mundhaltung biometrischer Passbilder, angesichts der deutlich sichtbaren Nummerierung mag man auch an US-amerikanische Gefängnisfotos von Neuinhaftierten denken, an erkennungsdienstliche Behandlung in Form von üblicherweise auch mit einer Personennummer versehenen mugshots. Interessant sind die feinen Unterschiede: So wirkt eine ältere Dame, »Pantone 97-7 C«, eher skeptisch, vielleicht in Vorahnung des zartrosa Tons von Nase und Hintergrund; ein junger Mann, »Pantone 62-5 C«, schaut, wie einige andere, freundlich-optimistisch; ein Kind, »Pantone 71-6 C«, schmuggelt ein anarchisch wirkendes Grinsen in die standardisierte Sammlung.
Zusammengestellt in unterschiedlichen Anordnungen von Köpfen und Farben, die jeweils wie auf Farbkarten in gleichformatigen Kästchen neben- und untereinander aufgereiht werden (und damit auch an Fahndungsplakate erinnern können), produziert das Projekt mosaikartige Darstellungen der chromatischen Vielfalt menschlicher Haut in unterschiedlichen Größenordnungen. The colours we share: Insbesondere die größer gerahmten Poster oder Wandbilder mit ihren Zusammenstellungen einer Vielzahl von Porträts sind Sammelsurien wimmelnder Farbtöne, die scheinbar mühelos und willkürlich über das Spektrum dem menschlichen Auge zugänglicher Farben gleiten.1
Oder die Farben, die uns teilen? Der farblich mit der Nasenspitze korrespondierende Hintergrund sowie die numerische Bezeichnung jeder abgelichteten Person gemäß Pantone-Kürzel scheinen zu suggerieren, dass die Vielfalt an Farbtönen in Kombination mit ihrer Kodifizierung in nun digitalen Datenbanken ein herausragendes Mittel der Identifizierung und Klassifizierung menschlicher Körper darstellt. Handelt es sich um eine Parodie oder Satire humanwissenschaftlicher Klassifizierung? Eine Untersuchung der Rolle der Farbe in diesen Zusammenhängen? Eine Strategie künstlerischer Überidentifikation, mit der die Kategorisierung und Hierarchisierung menschlicher Gruppen qua hautfarbenbasierter Raster ad absurdum geführt werden soll? Das Projekt ist langfristig angelegt und hat ein offenes Ende, denn, wie der britische Soziologe Paul Gilroy in seiner Kritik der epidermalen, hautfarbenbezogenen Verständnisse von »Rasse« fragt, wer könne schon wissen, wie viele Hautfarben es gebe.2 Um Parodie und Satire geht es indes wohl nicht. Eher präsentiert die Fotografin ihr Projekt affirmativ – in Interviews, in millionenfach abgerufenen TED Talks sowie unterschiedlichen, mittels über den Globus verteilter Ausstellungen und prominent über Bildungsprojekte an Schulen – als zivilgesellschaftliche und edukative Intervention, mit der körperliche Vielfalt und menschliche Schönheit jeglicher Couleur gefeiert und gegen Vorurteile und rassistische Kategorisierungen vorgegangen werden soll. Dass es um das Humanæ-Projekt in den letzten Jahren etwas ruhiger geworden zu sein scheint, ist vor dem Hintergrund einer zu beobachtenden Renaissance unsäglicher »Rassenwissenschaft« und der politisch-affektiven Ausschlachtung eines vermeintlichen anti-white feeling nicht nur in den Vereinigten Staaten keine gute Nachricht.
Der brasilianische Hintergrund der Künstlerin mag eine Rolle spielen: Sie führt die Genese des Projekts auf die unterschiedlichen Hauttöne in ihrer Familie zurück und auf die Verknüpfung dieser Farben mit gesellschaftlichen Zuschreibungen, mit Farbe als Kraft sozialer Organisation und Stratifikation also, mit der sie jenseits des Familienkontexts konfrontiert worden sei. So existiert in Brasilien ein breitgefächertes Vokabular zur Benennung unterschiedlicher Hautfarben, und Forscherinnen und Kommentatoren sind uneins, ob Begriff und Konzept der »Rasse« und die damit verbundenen Hierarchien schlicht keine Rolle spielen oder ob der Alltag nuancierter Farbunterscheidungen einem komplexeren Schema rassifizierter Kategorien und ihrer Diskriminierungsverhältnisse gleicht. Zumindest ist der brasilianische Kontext eine Mahnung, angloamerikanisch geprägte Verständnisse von race, colour line und eine rigide Teilung in schwarz und weiß nicht unterhinterfragt auf andere Kontexte zu übertragen, wo völlig andere Historien der Vermengung von Hautfarben, Klassifizierung und sozialer Schichtung in Betracht zu ziehen sind. So haben die Soziologen Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant bereits vor einem Vierteljahrhundert (auch mit Blick auf den brasilianischen Kontext) davor gewarnt, partikulare nordamerikanische Annahmen und Erkenntnisse zu race und ähnlichen Begriffen zu universalisieren und auf andere Regionen anzuwenden, und diese Praxis provokant als kulturellen Imperialismus bezeichnet.3
Angélica Dass’ Indienstnahme der Pantone-Datenbank zur Indizierung individueller Hautfarben führt diese »brasilianische« Nuancierung an ihren Extrempunkt. Zumindest im Englischen hantiert die Fotografin dabei recht unbekümmert mit dem race-Begriff, den sie zudem unmittelbar an Hautfarbe zu koppeln scheint – als sei Farbe nicht nur Medium, sondern Basis und Grund rassistischer Aufteilung von Menschen. Mit Blick auf die Komplexität und Situiertheit dieses Verhältnisses – und nicht zuletzt angesichts der langen Vorgeschichte des Einsatzes von Farbschemata zur Identifizierung und Klassifizierung von Hautfarben als Index von Gruppenzugehörigkeit und rassistisch kodierten Charakter- und Verhaltensmerkmalen – kann die Ernsthaftigkeit, Unbefangenheit und Technikgläubigkeit, mit der im Humanæ-Projekt Subjektivität qua Farbe indiziert und zelebriert wird, daher Unbehagen auslösen.4 Es ist im Sinne digitaler Fahndungs-, Identifizierungs- und Kommerzialisierungslogiken zudem leicht vorstellbar, dass für Pantone und Konsorten hier zukünftige Geschäftsfelder des algorithmisch automatisierten Vertriebs personalisierter Farb- und Hautprodukte liegen. Ob Zustimmung oder Unwohlsein: Das Vorhaben interveniert in die vielgestaltige Geschichte der epidermalen Schemata, um Frantz Fanons berühmten Begriff zu zitieren, also in die Frage, wie (Haut)Farbe zum Organisationsprinzip des Sozialen wurde und (wieder) wird.
II
Das Unbehagen über die unbefangene Ernsthaftigkeit, mit der Pantone zum technischen Garanten egalitärer Hautfarbenverhältnisse werden soll, verweist auf eine der vielen Vorgeschichten von Farbschemata als Organisationsmedien sozialer Klassifizierung.5 Bevor das Unternehmen zum Weltmarktführer in der Privatisierung und Vermarktung standardisierter Farben wurde, war Pantone eine kleine Farbdruckfirma im amerikanischen New Jersey, die auf Farbkarten für Kosmetikprodukte spezialisiert war; Hautfarbenbestimmungen und -abgleiche sind der Firma quasi historisch eingeschrieben. Heute ist sie Teil von X-Rite, einem Konzern für »Farbmanagementlösungen« für unterschiedliche Branchen. Auch das Munsell-System gehört inzwischen zu X-Rite und wird hier insbesondere für wissenschaftliche Einrichtungen und den öffentlichen Sektor vermarktet. So gelten Munsell-Farbschemata und -Karten zum Beispiel als Standard für die Durchführung psychologischer Experimente und anthropologischer Feldforschung. Letztere ist vor allem durch die einflussreiche, 1969 publizierte Studie Basic Color Terms des Anthropologen Brent Berlin und des Linguisten Paul Kay zu zweifelhaftem Ansehen gelangt. Die Berlin-Kay-Theorie besagt grob umrissen, dass es ein gemeinsames, angeborenes und global gültiges Repertoire an universellen Farbkategorien gibt. Das Vorhandensein diesbezüglicher Farbbegriffe lässt sich für verschiedene Regional- und Sprachkulturen messen und in evolutionäre Entwicklungsstadien einteilen: von der Fähigkeit zur Verbalisierung von Schwarz und Weiß (Stadium 1) bis hin zur Kommunikation mit Begriffen wie Orange, Lila, Grau und Rosa (Stadium 7). Mit Paul Kays großangelegter World Color Survey und ihren durchschnittlich 24 Testpersonen aus 110 Sprachräumen wurde die Analyse Ende der 1970er Jahre modifiziert und auf unterschiedliche Entwicklungspfade hin erweitert, wenn auch im Wesentlichen bestätigt.
Materiell und ideell beruhten diese Unterfangen auf Munsell-Farbchips (330 Stück im Fall der World Color Survey), die auf einem Karton montiert waren, der einer riesigen Farbkarte ähnelte, auf der die Befragten angeben konnten, welche Farbe oder welche Farben zu einem Farbbegriff passen würden oder könnten. Ähnlich wie das Pantone-System im Humanæ-Projekt fußt dieses Vorgehen auf der Annahme, dass das Munsell-Schema die Farbe erschöpfend und gültig darstellt: Eine Farbempfindung kann nur existieren oder gemessen werden, wenn sie Teil des Klassifizierungsraums des Schemas ist. Das bedingt wiederum die Annahme einer quasi neutralen, kontextunabhängigen Standardbeobachterin und ihrer Wahrnehmungsweise, auf deren Basis die Beziehungen zwischen Wellenlänge und Wahrnehmung zu modellieren sind. Dabei wird ausgeblendet, dass das gewählte Farbsystem und seine Sammlung von Farbreizen selbst auf ästhetischen und normativen Präferenzen beruhen – gerade die Entwicklung der Munsell-Farbtheorie war durchzogen von Unterscheidungen über »zivilisierte« und »unzivilisierte« Farbtöne, ihre Wahrnehmung und Verwendung.
Es kann dann kaum überraschen, dass die Ergebnisse eine überlegene Farbwahrnehmung vermeintlich entwickelter, westlich geprägter Regionen demonstrieren (in denen man in der Lage ist, elf grundlegende Farbbegriffe zu verwenden), denen unterentwickelte Kulturen gegenübergestellt werden, die noch nicht zu einem adäquaten Farbensinn gelangt seien (und die somit in evolutionär rückständige Stufen eingeteilt werden können). Einer ehemals kolonialistischen Benennung des »Primitiven« wird somit die wissenschaftlich vermeintlich abgesicherte Prämisse hinzugefügt, dass der westliche, postindustrielle Farbraum den wahren Ausdruck der Gesamtheit der Farbwahrnehmung enthält, dem sich andere Regionen redlich strebend annähern können. In scharfen Worten hat zum Beispiel die Anthropologin Barbara Saunders die Basic Color Terms und die World Color Survey kommentiert. Deren Ergebnisse seien durch die Verleugnung der Lebenswelt, die hanebüchene Annahme einer unvermittelten, unideologischen Wahrheit des Munsell-Farbschemas, die Verschleierung der damit einhergehenden Mess- und Analysetechniken sowie die Bereinigung von Daten erreicht worden. Es wäre müßig, so Saunders, hier zwischen Rassismus und Kolonialismus unterscheiden zu wollen.6
III
Offensichtlich ist, wie Farbe zum Medium sozialer Differenzierung und ihrer Machtverhältnisse wird. Ließe sich der Berlin-Kay-Theorie ein naiv anmutender Glaube an methodisch kontrolliertes Vorgehen zuschreiben, der sich um das Zustandekommen der eigenen farbeschematisch situierten Vorannahmen und die Grenzen ihrer Verallgemeinerung nicht schert, so ist die Geschichte der Verknüpfung von Hautfarbe und rassischen Zuschreibungen von abenteuerlicher Schlichtheit und Willkür geprägt. Sie verdeutlicht, so Gilroy, die grundlegende Absurdität von »Rasse« als Prinzip der Macht, Differenzierung und Klassifizierung. Die quasiwissenschaftliche Zuordnung von Hautfarben zu rassischen Kategorien gilt als Ausgeburt des europäischen Denkens des 18. Jahrhunderts. Sie ist Erfindung der frühen Naturwissenschaften sowie ein Aberwitz beziehungsweise eine Selbstdemontage der Aufklärung, deren Absurdität in Zeiten neuer Netzwerke der »Rassenwissenschaften«, finanziert und propagiert von Tech-Milliardären, in Erinnerung zu rufen ist.7
Zwei berüchtigte Versuche seien kurz erwähnt. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (oder Linnaeus) unterschied fünf Menschenarten anhand der Verbindung körperlicher Merkmale mit kulturellen Mythen und Annahmen. Es gebe, so fabulierte er, den roten Homo americanus rufus, gekennzeichnet durch schwarzes Haar und spärlichen Bart ebenso wie durch Eigenschaften wie Sturheit, Freiheit und Treue zu Bräuchen; den blassgelben Homo asiaticus luridus, ein unbeugsamer, aber stolzer Melancholiker, der von Meinungen beherrscht wird; den weißen, gelbhaarigen und blauäugigen Homo europaeus, sanft und erfinderisch sowie gesetzestreu; den schwarzen, seidenhäutigen Homo africanus, listig, launisch und träge zugleich; und zuletzt die eigentliche Außenseitervariante des Homo monstrosus, zu der dem fabulierenden Klassifikator zufolge Zwerge, Riesen und Menschen mit Missbildungen gehören. Warum zum Beispiel die Verbindung von Homo asiaticus und der Farbe gelb? Linnés lateinisches »fuscus« war ein vager Begriff, der für ein Spektrum dunklerer Farben stand. Anscheinend wurde »fuscus« in einer deutschen Übersetzung von Linnés Systema Naturae mit »gelblich« übersetzt, und von diesem Übersetzungsfehler aus nahm die Geschichte ihren Lauf.
Auch Immanuel Kant sticht mit seinem anthropologischen Frühwerk (rückblickend) unrühmlich hervor. Im Einklang mit zu seiner Zeit gängigen Annahmen über eine aus verschiedenen »Rassen« zusammengesetzte Menschheit und wohl unter dem Eindruck der selektiven Lektüre von Reiseberichten formulierte er zweifelhafte koloristische Thesen zu substanziellen, vermeintlich unveränderlichen Unterschieden zwischen den »Rassen«, deren Eigenschaften und Vernunftfähigkeiten direkt an Hautfarbe sowie angenommene Gesichts- und Haaresmerkmale gebunden wurden und mit denen sich Ungleichbehandlung und Willkürherrschaft leicht rechtfertigen ließen. Die Debatte darüber, ob es sich hier um eine außerphilosophische Verirrung im Frühwerk handelt, die gegenüber der eigentlichen Moralphilosophie und Kants explizit antikolonialem Kosmopolitismus wenig Aufmerksamkeit verdient, oder ob in diesen Schriften bereits vorweggenommen wird, welche Hautfarbenträgerinnen sich überhaupt für Moralphilosophie qualifizieren, ist für die Frage nach dem Organisationsprinzip Farbe zweitrangig.8 Wichtiger ist die folgenreiche Rolle, die der Hautfarbe als nun einmal sichtbarstes phänotypisches Merkmal auch bei Kant zukam, dessen Einlassungen zur Popularisierung des Rassebegriffs und seiner Verwissenschaftlichung beitrugen. So stützte sich der sich ausbreitende Rassismus auf einen Kolorismus als Organisationsprinzip: auf die schiere Sichtbarkeit und die gleichzeitig symbolische und affektive Kraft der Hautfarbe.
IV
Als Organisationsprinzip einer symbolischen Ordnung ist Hautfarbe in Homi Bhabhas Worten der »sichtbarste aller Fetische« und evoziert ein öffentliches Allgemeinwissen, das sich tagtäglich in einer kaum überschaubaren Ansammlung unterschiedlichster Stereotype äußert.9 Allerdings kann epidermale Farbe damit weder als eine Art Urgrund für rassische Unterscheidungen verstanden werden, noch sind diese zwangsläufig farblich kodiert. Die deutsch-amerikanische Geschichte bietet hierzu gewissermaßen das Paradebeispiel in Form der Nürnberger Rassengesetze, die von den US-amerikanischen race laws inspiriert waren und sich ihrer teils als Vorlage bedienten. Ein Problem war allerdings, dass die binäre Farbcodierung des US-Gesetzes nicht übertragbar war, da es in Deutschland keine vergleichbare color line gab, auf die man zurückgreifen konnte. Für die Behauptung eines auf vermeintlichen genetischen Differenzen basierenden Rasseverständnisses waren hauptfarbenbasierte Unterscheidungsmerkmale dann sekundär.10 So gibt es farblich kaum oder nicht kodierte beziehungsweise »farbblinde« Elemente rassischer Theorie und rassistischer Vorurteile. Gemäß dem Soziologen Eduardo Bonilla-Silva, der wiederum über den gegenwärtigen US-Kontext schreibt, geht es bei der Anrufung von »Rasse« und ihren Hierarchieverhältnissen primär darum, Privilegien dauerhaft zu vergeben, zu sichern und zu verteidigen. Es gibt dann viele, teils subtile Möglichkeiten und Mittel, um Ressentiments jenseits oder über Hautfarbe hinaus zu institutionalisieren, angefangen bei alltäglichen Klassifizierungen geografischer, ortsbezogener und milieuspezifischer Hintergründe über Annahmen zu Gefällen in Werteeinstellungen und Arbeitsethik zur Betonung vermeintlich neutraler Marktdynamiken.11
Hinzu kommt, dass hautfarbenbezogene Unterscheidungen der Erfindung des »Rasse«-Narrativs und seiner Absurditäten weit vorausgehen und diesem nicht retrospektiv anheimfallen sollten. Lange bevor Hautfarbe und Hauttöne von der Anthropologie als taxonomisches Feld entdeckt wurden, spielten epidermale Unterschiede eine Rolle, und die Bedeutungen dieser Unterschiede variierten im Laufe der Geschichte und je nach Region. Sie waren nicht unbedingt mit Werturteilen behaftet. Begegnungen zwischen eher dunkel- und eher hellhäutigen Menschen führten in der Antike nicht zu vorurteilsbehafteten Darstellungen, heißt es beispielsweise mit Blick auf altgriechische und -römische Quellen. Es gab demzufolge kein epidermales Schema: Weder war Hautfarbe ein Zeichen von zugeschriebener Minderwertigkeit noch eine Grundlage für die Beurteilung anderer (und die antike Sklaverei war farbenblind).
Andererseits wurde Hautfarbe bereits in den Jahrhunderten vor der Erfindung des Rassenbegriffs auf vielfältige Weise zu einem Ordnungsprinzip sozialer Differenzierung. Man denke an das Unterscheidungsmerkmal einer helleren, nicht von der Sonne gebräunten Haut, die Freiheit von der Arbeit im Freien und in der Landwirtschaft symbolisierte, oder an die lange Geschichte religiöser Assoziationen von Weiß mit Reinheit und Tugend und Schwarz mit Unreinheit, Sünde und Gefahr. Solche Assoziationen sollten dann wiederum die Konstruktion der Rassentheorie prägen, die daraus anthropologische Wahrheiten und historische Kontinuitäten zu machen suchte.12
Die vorsichtigere Untersuchung hautfarbenbasierter Differenzierungsverhältnisse, die Begriffe und Annahmen rassischer Unterscheidung zumindest zunächst hintanstellt, hat nun auch die zeitgenössische Soziologie eingeholt. Dazu wird eine erweiterte Fassung des colorism jenseits von Schwarz und Weiß und ihren Zwischenstufen ins Feld geführt, mit der komplexere und feinere Mechanismen sozialer Unterscheidungen, Hierarchien und Privilegien in den Blick geraten. Hautfarbe bleibt Organisationsprinzip und eine bestimmende Kraft sozialer Unterschiede, die sich in unterschiedlichen Bereichen wie Beruf und Einkommen, Bildung und Gesundheitsversorgung, Mode und Konsum manifestiert. Critical Skin Theory neben oder anstatt Critical Race Theory also, eine Aufmerksamkeit für doing colorism neben oder anstelle von doing race, womit auch dem Vorwurf nordamerikanisch dominierter Denkweisen und Analyseraster begegnet werden kann (was Bourdieu und Wacquant als Imperialismus bezeichneten).13 Was als attraktiv oder abstoßend, vorteilhaft oder unvorteilhaft, normal oder abweichend gilt, ist kontextabhängig und regional verschieden.
Beispielsweise scheint die Einschätzung von Hauttönen keineswegs überall und stets in Richtung einer Präferenz für hellere Töne zu tendieren und in rassisch kodierten Zuschreibungen aufzugehen. Auch das ästhetische Spiel mit unterschiedlichen Schattierungen verweist auf ein Gewimmel von Praktiken des Gebrauchs von synthetischen, auf die Haut aufgetragenen Farben. So hat Bibi Bakare-Yusuf basierend auf Beobachtungen in Nigeria gegen Vorstellungen der Hautaufhellung als westlich-neokolonialem und geschlechtsspezifischem Imperativ des »Weißens« argumentiert, dass es eben nicht um eine Abwertung der eigenen, dunklen Hautfarbe gehe. Stattdessen werde die vermeintlich überlegene Logik weißer Haut durch alltägliche Färbungspraktiken auch kritisiert und als instabil entlarvt. Bleaching sei bloß Teil eines globalisierten Feldes von Repräsentationen und Zeichen, auf dem whiteness auf die gleiche Weise konsumiert werden könne, wie blackness für den globalen Konsum von Coolness verfügbar sei.14
V
Die zügellose Welt der Farbe, so bell hooks, hat keine »Rasse« und kein Geschlecht.15 Bakare-Yusufs Beobachtungen sind auch deswegen aufschlussreich, weil sie die unordentliche Kraft der Farbe für das Nachdenken und das Studieren des sozialen Kolorismus geltend machen. Dieser Kraft wird üblicherweise kaum Beachtung geschenkt, weil (Haut)Farbe als primäres Ordnungsmittel, als klar zu entschlüsselndes Medium visueller Lesbarkeit, Gewissheit und Gewalt verstanden wird. Mit Blick auf die Entstehung und Folgen epidermaler Schemata ist die Fixierung auf die chromatische Ordnung und Aufteilung des Sozialen unausweichlich. Man wünscht sich, diese Geschichte gewissermaßen entfärben zu können, eine Absage an Farbe zu vollziehen oder Farbe als Organisationsprinzip zu dekonstruieren, um ihrer Macht der Teilung und Aufteilung, Hierarchisierung und Diskriminierung zu entfliehen.
Oder es gilt, anders und neu zu kolorieren, die Kraft der Farbe zur Verwischung der mit ihr vollzogenen Aufteilungen des Sicht- und Sagbaren ernst zu nehmen. In diesem Sinn erinnern Bakare-Yusufs Beschreibungen genauso wie die buntscheckigen Mosaike von Angélica Dass’ Humanæ-Initiative an die fundamentale Instabilität der Farbe, die die Bedingung chromatischer Ordnungssysteme ist und diese immer schon unterläuft. Eingefasst in globale Konsum- und Modetrends, erzählen alltägliche Praktiken des Stylings und der Verschönerung auch von koloristischer Transformation und Neuerfindung, die epidermale Schemata durchbrechen. Ermöglicht durch die Farbkartenapparatur Pantones, bergen die großformatigen Mosaike der brasilianischen Fotografin das Versprechen einer farblichen Unruhe, die sich nicht in kruden Taxonomien und ihren Vorurteilen stillstellen lässt.
Das Bewusstsein der chaotischen Sozialität von Farbe, verstanden als Medium von Organisation und Desorganisation, bedeutet dann, sich nicht damit zufrieden zu geben, den Kolorismus der Hautfarbenbestimmung und seine diskriminierenden und identitätspolitischen Auswirkungen zu dokumentieren. Eine kritische Hauttheorie zu verfolgen hieße zudem, die Augen offen zu halten für den Kolorismus von multiplen, fließenden, vergänglichen, zufälligen Farbtönen und Nuancen, für die Unbestimmtheit der Farbe, die die Faktizität des Hautfarbenkolorismus durchkreuzt.
Vgl. Angélica Dass, The Colours We Share. New York: aperture 2021 (angelicadass.com/photography/humanae/).
Paul Gilroy, Against Race. Imagining Political Culture Beyond the Color Line. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2001.
Pierre Bourdieu /Loïc Wacquant, On the Cunning of Imperialist Reason. In: Theory, Culture & Society, Nr. 16/1, 1999.
Vgl. Michael Rossi, Ten Short Notes on Color, Anthropology, and Makeup. In: Grey Room, Nr. 76, Sommer 2019.
Vgl. Timon Beyes, Soziale Farbe (I). Mocha Mousse, die Unordnung der Farbe und die Ordnung des Sozialen. In: Merkur, Nr. 912, Mai 2025; ders., Organizing Color. Toward a Chromatics of the Social. Stanford University Press 2024.
Barbara Saunders, The Spectre of Colour: A Sociobiological Paradigm. In: Science as Culture, Nr. 8/4, 1999.
Vgl. David Pegg u.a., Revealed: International »race science« network secretly funded by US tech boss. In: Guardian vom 16. Oktober 2024 (www.theguardian.com/world/2024/oct/16/revealed-international-race-science-network-secretly-funded-by-us-tech-boss).
Interessant für eine Farbenlehre des Sozialen ist indes, wenn Kant für eine Philosophie und Ästhetik der blackness neu gelesen wird, wie es Fred Moten mit seiner Figur des »Black Kant« unternimmt. Schwarz erscheint dann als chromatisch gesättigtes Feld der Unordnung, der »Anti-Epidermisierung«, die eine »soziale Chromatik der Farbe schwarz« als »störende, deformierende Kraft« erfordert. Kants taxonomisches Denken ist für Moten verflochten mit dem, was (wie die Farbe) der (rassifizierten, farbkodierten) Ordnung entgeht und sie untergräbt und wogegen Hautfarbenklassifikationen und ihre Fantasien und Vorurteile kontinuierlich konstruiert und reproduziert werden. Fred Moten, Stolen Life und The Universal Machine. Beide 2018 bei Duke University Press in Durham. – Alle Übersetzungen durch den Autor.
Homi Bhabha, The Location of Culture. Abingdon: Routledge 1994.
Vgl. James Q. Whitman, Hitler’s American Model. The United States and the Making of Nazi Race Law. Princeton University Press 2017. Mit einem Fokus auf Hautfarbe als Alleinstellungsmerkmal des Rassismus lassen sich dann Hierarchien zwischen beispielsweise antisemitischer und rassistischer Diskriminierung behaupten. In Whoopi Goldbergs Worten (denen eine Entschuldigung folgte): »This is white people doing it to white people, so y’all gonna fight amongst yourselves«. Zit. n. ABC Suspends Whoopi Goldberg Over Holocaust Comments. In New York Times vom 1. Februar 2022 (www.nytimes.com/2022/02/01/us/whoopi-goldberg-holocaust.html).
Eduardo Bonilla-Silva, Racism without Racists. Color-Blind Racism and the Persistence of Racial Inequality in America. Lanham: Rowman & Littlefield 2003.
Vgl. Nina G. Jablonski, Living Color. The Biological and Social Meaning of Skin Color. Berkeley: University of California Press 2012.
Ronald E. Hall, The Globalization of Light Skin Colorism: From Critical Race to Critical Skin Theory. In: American Behavioral Scientist, Nr. 62/14, 2018; Stefan Hirschauer /Matthias Krings, Rassifizierende Humandifferenzierung. Ein Plädoyer für spezifizierende Vergleiche statt ethno-zentrischer Subsumtion. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 34/2, März 2024.
Bibi Bakare-Yusuf, Yellow Fever, NKO? In: Chimurenga Chronic vom 1. März 2013 (chimurengachronic.co.za/yellow-fever-nko/).
bell hooks, Art on My Mind. Visual Politics. New York: The New Press 1995.