Spielmeister
Die Dalli-Dalli-Sendung vom 6. Juli 1972 von Albert Kamps»Die Wahrheit reißt wie ein verrückter Gärtner Krausköpfe aus und lässt sie liegen.«
Thomas Bernhard, Frost
Am 19. Oktober 1942 fuhr vom Güterbahnhof Moabit in Berlin ein Transport mit 959 Menschen nach Riga in Lettland. Die Mehrzahl der Insassen des Sonderzuges wurde sofort nach der Ankunft in die umliegenden Wälder gebracht und erschossen. Unter den Ermordeten befanden sich 140 Kinder, darunter auch Gert Rosenthal (geb. 26. Juli 1932), der als Vollwaise in einem Jüdischen Kinderheim gewohnt hatte. Gert war der jüngere Bruder des später als Entertainer bekannt gewordenen Hans Rosenthal. Der siebzehnjährige Hans tauchte unter und lebte bis zum Kriegsende versteckt in einer Laubenkolonie.
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Das Studio ist verdunkelt. Alle Spots gehen an, und Rosenthal kommt aus einer Tür in der Deko auf die Bühne. Brauner Anzug, gelbes Hemd, gelb-braune Krawatte. Begrüßung, »München, Grüß Gott«. Buntes Publikum auf Metalltribünen.
Rosenthal zeigt eine Postkarte, die er aus dem St. Josef Hospital in Olsberg bekommen haben will. Sechs Schwangere sollen dort angeblich während der letzten Sendung gleichzeitig entbunden haben.
Vorstellung der Jury. Die »charmante österreichische Schnellrechnerin Brigitte Xander« und Mady Riehl. Oberschiedsrichter Ekkehard Fritsch trägt grauen Anzug, schwarzes Hemd, weiße Krawatte, schwarzes Einstecktuch und Siegelring. Rosenthal liest eine weitere Postkarte vor. »Sehr geehrter Herr Spielmeister«, schreibt ein Fan, und bittet um eine Freikarte für die nächste Show. Rosenthal kommentiert und beantwortet die Anfrage nicht.
Erste Spielrunde. »Melodie« gegen »Medaille.« Waben-Deko schimmert pastellrosa. Team »Melodie« sind die Opernsänger Renate Holm und Heinz Hoppe. A-Prominenz. Holm trägt rote Hose, schwarze Bluse und gewaltigen Silberschmuck. Hoppe, Münsterländer von mächtiger Statur, einen grauen Anzug.
Erste Fragerunde. Was hat alles mit Wetterbericht zu tun? Holm sagt: »Wechselnde Winde aus Ost.«
Ostfrontkämpfer Heinz Hoppe kehrte 1948 aus der Gefangenschaft in Sibirien zurück. Die beiden gehörten zum erlauchten Bardenkreis der »Kammersänger«, ein staatlich verliehener Ehrentitel, mit Urkunde, Zeremonie und allem Pipapo. Rosenthal betont, Renate Holm habe eine erstaunliche Gesangskarriere gemacht: »Von der Schlagersängerin zur Opernsängerin. Ist das so einfach gewesen?«
»Es hört sich vielleicht einfacher an, als es war«, antwortet sie, und dann, fast ein bisschen traurig: »Is nicht so einfach gewesen.«
Der Erste Weltkrieg ist gerade mal einen Monat alt, als sich die 2. Armee unter dem Kommando des Generalfeldmarschalls Karl von Bülow Anfang September 1914 Paris nähert. Lille ist erobert, Cambrai, Arras, Amiens und Reims. Nur die Marne trennt die deutschen Truppen noch von Paris. Von Bülow verliert aber den Kontakt zu seinem Kollegen von Kuck, dem Befehlshaber der 1. Armee. Es entsteht eine vierzig Kilometer große Lücke in ihrem Verbund, die von Bülow nach Norden zu schließen versucht, statt, wie vorgesehen, Paris zu umfassen und von Westen aus anzugreifen. So manche behaupten, Karl von Bülow habe damit den Schlieffen-Plan versemmelt. Die erschöpften französischen Truppen gewinnen Zeit zur Regeneration und siegen in der folgenden Schlacht an der Marne. Die deutschen Streitkräfte ziehen sich bis zur Aisne zurück. Die große Chance, Paris einzunehmen und damit womöglich früh den Ersten Weltkrieg vorzuentscheiden, ist vertan. Die Westfront erstarrt im Stellungskrieg und friert ein.
Am 26. Mai 1915, ein gutes halbes Jahr nach der Niederlage an der Marne, besteigt Karl von Bülows neunundzwanzigjähriger Sohn Busso, Oberleutnant der Feldfliegerabteilung 12, in Soissons an der Aisne ein Flugzeug und bricht zu einem Erkundungsflug über die feindlichen Stellungen auf. Die Maschine stürzt ab. Der Junggeselle Busso von Bülow kommt dabei ums Leben. Er hinterlässt in Berlin eine bürgerliche Tochter, die Karl von Bülow und sein adeliger Clan nicht anerkennen werden. Es ist die Mutter Renate Holms. Diese hatte in ihrer Kindheit unter dem autoritären Regiment nicht viel zu lachen, denn die Mutter taumelt emotional zwischen Verbitterung und dem Stolz, eine Marschallsenkelin zu sein, hin und her.
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