Heft 859, Dezember 2020

Spontane Wissenschaftsphilosophien und Philosophien der Wissenschaftler

von Christoph Hoffmann

Im Jahr 1974 erscheint Louis Althussers Schrift Philosophie et philosophie spontanée des savants.1 Ihren Ausgang nimmt sie von einer »Philosophievorlesung für Wissenschaftler«, die im Studienjahr 1967/68 an der Ecole Normale Supérieure veranstaltet wird.2 Als kollektives Unternehmen konzipiert, hat sich Althusser die Einführung in das Thema reserviert. Ursprünglich ist dafür eine Sitzung veranschlagt, tatsächlich werden es fünf Vorlesungsstunden. Im Zentrum stehen »die (›bewußten‹ oder ›unbewußten‹) Vorstellungen, die sich die Wissenschaftler von der wissenschaftlichen Praxis der Wissenschaften und von ›der‹ Wissenschaft schlechthin machen«.

Diese »spontane Philosophie der Wissenschaftler« begegnet in zwei Varianten. Zu ihr gehören die Traktate, die Wissenschaftler nach Feierabend verfassen; heute zum Beispiel die Anthropozänliteratur. Im Kern ist diese spontane Philosophie aber von anderer Art: Nicht allseits vernehmlich, sondern unbesprochen ist sie nicht mit den Folgerungen beschäftigt, die Wissenschaftler aus ihrer Arbeit ableiten, sondern geht der wissenschaftlichen Arbeit voraus und durchdringt diese, ohne eigens als Philosophie hervorzutreten. Gewöhnlich nimmt sie deshalb, wie Althusser schreibt, »unsichtbare und stille Formen« an. Ich nenne sie die Arbeitsphilosophie der Wissenschaftler.

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