Sprachverlust und Migration
von Trung Hoàng LêIch habe meine Muttersprache fast verloren, bevor ich alt genug war zu begreifen, dass man eine Sprache verlieren kann. Ich habe ihr nicht beim Weggehen zugesehen. Sie ist einfach irgendwann nicht mehr erschienen. Manche Worte kleben noch irgendwo zwischen Zunge und Gaumen, andere liegen auf dem Grund eines dunklen Brunnens, über den ich mich manchmal beuge. Manchmal glaube ich, ein Echo zu hören, aber vielleicht ist es auch mein eigenes melancholisches Wimmern.
Ich versuche, meinen Kindern Vietnamesisch beizubringen. Es kostet mich nicht selten Anstrengung und Überwindung, ganz besonders wenn ich vorlesend übersetze. Wörter, die nicht da sind, Sätze, die abbrechen wie morsches Holz. Die unauffindbaren Worte sind wie leere Wegmarken, die geradewegs in ein stummes Reich führen, in dem Verlust und Ohnmacht regieren. In diesem Reich bin ich unfähig und unvollständig – als Viet, als mündiges Subjekt, bin ich ein Vater, der seine eigene Sprache nicht beherrscht. Für jemanden, der so auf Worte angewiesen ist wie ich als Psychologe und Philosoph, ist es eine Beinahekatastrophe, die Dinge nur annähernd präzise – und manchmal ziemlich falsch und sehr ungenau – ausdrücken zu können.
Aber wie konnte es so weit kommen? Woher kommt das Unbehagen, die eigene Sprache zu sprechen? Und natürlich, weil ich Vater bin, die Frage, was die Ohnmacht, die angestrengte Frustration und das Verlustgefühl mit meinen Kindern machen? Können sie so überhaupt lernen, meine Sprache sprechen zu wollen, sich in ihr wohlfühlen?
Die Not des Lebens
Meine Eltern wollten immer, dass mein jüngerer Bruder und ich nicht unseren Bezug zur »Heimat« verlieren. Auch mein Bruder, der vier Jahre jung war, als er in die DDR kam, hat die vietnamesische Sprache fast gänzlich verloren – und sich wieder angeeignet, als junger Mann, in seiner damaligen Tätigkeit als Fotojournalist, die ihn die »Heimat« bereisen ließ. Wie er spreche ich Vietnamesisch mit deutschem Akzent.
Eigentlich ist es eine Ungeheuerlichkeit, als Viet seine Sprache zu verlieren, wenn man die Jahrhunderte von Unabhängigkeitskämpfen gegen die Kolonisatoren wie die USA, Frankreich, Japan, Portugal oder China bedenkt. Ganz sicher hatten unsere Eltern den starken Wunsch, dass wir den Bezug zur Heimat auch sprachlich halten.
Unsere Eltern sprachen jedoch deutsch mit uns, damit wir erfolgreich werden, in der Schule, für das Abitur und im Studium, das uns weit weg katapultieren sollte vom asiatischen Hunger und migrantischer Geldnot. Der Wert einer Sprache bemisst sich, so lernte ich, auch an ihrer Macht, Bildungsabschlüsse und ökonomischen Erfolg zu produzieren. Das Deutsche und das Englische waren und sind – und das überall auf der Welt – in der Sprachwährung um ein Vielfaches wertvoller als das Vietnamesische.
Ich war neun und mein Bruder sechs, als die Mauer fiel. Unser Vater ging zurück nach Vietnam, um seine politische Karriere fortzuführen. Unsere Mutter, studierte Textilingenieurin und Übersetzerin, wusch Teller. Unser Vater entschied sich dann doch für die Familie und gegen die Karriere und kam 1992 zurück in die Bundesrepublik – als Asylant, nach Hoyerswerda. Unsere Mutter machte den Führerschein, wir fuhren so oft es ging zu meinem Vater. Er, studierter Bauingenieur und Dolmetscher, durfte irgendwann wieder arbeiten und wusch Teller. Die Sehnsucht nach Heimat ist stark und vor allem auch, dass sie unversehrt bleibe, in einem selbst und für die nachfolgenden Generationen. Doch die Geschichten von der Heimat und von den Menschen dort, die uns, meinen Bruder und mich, hätte mit ihnen verbinden können, blieben begraben unter der Menge von Erniedrigung und Schmerz und nicht endenden Widerständen im kapitalistischen Neuland.