Heft 910, März 2025

Städtebau beginnt an der Straße

von Christian Kühn

Folgt man der biblischen Erzählung im Buch Genesis, beginnt Städtebau mit einem Mord. Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen nomadischen Bruder Abel aus Neid, weil Gott dessen Opfergabe seiner eigenen vorzog. Er wird von Gott verstoßen, übersiedelt ins Land Nod und gründet dort die Stadt Henoch, die erste, von der die Bibel berichtet. Wie eng Ackerbau und Stadt verknüpft sind, vermittelt auch der Gründungsmythos der Stadt Rom: Romulus pflügt mit einem Gespann aus einem schwarzen Stier und einer weißen Kuh eine Furche um das zukünftige Stadtgebiet, die zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang vollendet sein muss. Auch dieser Mythos endet blutig. In einer berühmten Variante der Erzählung tötet Romulus seinen jüngeren Bruder Remus, weil dieser über die Furche springt, um ihre Macht zu verhöhnen, und wird dadurch zum alleinigen Namensgeber der Stadt Rom. Mythologisch ist der Begriff der Stadt dunkel grundiert. Wir hätten uns viel erspart, wenn wir Nomaden geblieben wären.

Die Stadt als Infrastruktur

Mythen, Legenden und Erzählungen gehören zur Substanz der Stadt, und sie sind keineswegs weniger wirksam als die Mauern, aus denen sie materiell besteht. Dabei geht es nicht nur um alte Mythen. Auch die aktuelle Stadtplanung ist geprägt von der Spannung zwischen der Stadt als Erzählung und der Stadt als Objekt, oder anders gesagt: der Stadt als Zustand, der im permanenten Wandel vom nächsten Zustand abgelöst wird, und der Stadt als Gegenstand, dessen Substanz Jahrhunderte überdauert.

In Deutschland kulminierte diese Spannung 2014 in einer Debatte, die von einem Manifest mit dem Titel Stadt zuerst! ausgelöst wurde, das Kölner Stadtplaner um Wolfgang Sonne und Christoph Mäckler initiiert hatten. »Deutschland war noch nie so wohlhabend, seine Stadträume waren aber noch nie so armselig«, hieß es da trocken, und die Kritik richtete sich vor allem an die Universitäten, an denen man nur noch lerne, ausführlich zum Thema Stadt zu sprechen, aber nicht mehr, wie man eine Straße, geschweige denn einen Stadtteil gestaltet. Der sorgfältige Umgang mit dem städtischen Raum und den Gebäuden, die ihn bilden, werde nicht mehr gelehrt.

Die Antwort kam von einer jüngeren Generation von Planern, die unter dem Titel 100 % Stadt ein Gegenmanifest verfassten, in dem die Vielfalt der Stadt beschworen wurde, die nur noch durch interdisziplinäre Anstrengung gelenkt werden könne. Eine lebendige Stadt sei eben immer in Bewegung und existiere eigentlich nur im Kopf: Sie bestehe »vor allem aus den Erzählungen der Vergangenheit und den gegenwärtigen Erwartungen an die Zukunft«. Ist diese erzählte Stadt nicht um vieles interessanter als ihre dauerhafte Form aus Ziegel, Stahl und Beton?

Dass es noch eine dritte Stadt gibt, die weder Objekt noch Erzählung ist, blieb bei der heftig und emotional geführten Debatte weitgehend ausgeblendet. Stadt lässt sich auch als gigantische Infrastruktur verstehen, zwischen deren Komponenten ein permanenter Fluss von Energie, Personen und Gütern besteht. Dazu zählen klassische Infrastrukturen wie das Verkehrs-, des Energie- und das Kanalsystem. Auch diese Infrastrukturen bestehen aus Objekten; ihre eigentliche Aufgabe ist es aber, Fließendes zu regulieren, echte Flüsse, die hochwassersicher durch Städte geleitet werden müssen, aber auch Stoff- und Energieflüsse, ohne die eine moderne Stadt nicht lebensfähig wäre. In den 1970er Jahren, als in den USA eine Krise der Infrastruktur ausgerufen wurde, begann man, den Begriff auf andere Funktionen zu übertragen, etwa auf Schulen und Krankenhäuser, die oft als »soziale Infrastruktur« bezeichnet werden.

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