Star-Container Taylor Swift
von Klaus WalterWenn Pop noch immer ein Medium der Vergemeinschaftung ist, welche Art der Vergemeinschaftung findet dann rund um den größten Popstar der Gegenwart statt? Diese Frage beschäftigt nicht zuletzt akademische Betriebe rund um den Globus.
Die Universität Gent bietet einen Literaturkurs zu den Songtexten von Taylor Swift an, um zu klären, ob die Sängerin ein »literarisches Genie« ist. In Melbourne wird bei einem »Swiftposium« an der Uni erforscht, wie TS Wirtschaft, Gesellschaft und Literatur beeinflusst. Prompt publiziert die bis dato weder als pop- noch als adorno-affin aufgefallene Tageszeitung Die Welt ihre »Bewerbung fürs akademische Swiftposium« und fragt: »Lässt sich die Kulturindustriekritik der Frankfurter Schule auf Taylor Swift übertragen?«
Holger Schulze, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen (und Ex-Merkur-Sound-Studies-Kolumnist), teilt auf Anfrage bei Facebook mit: »Aus meiner skandinavischen & deutlich vom US-Diskurs informierten Perspektive täte ich sagen: wer über Popmusik der Gegenwart sprechen will, kommt um Swift ebenso wenig herum wie um Beyoncé oder Bad Bunny.«
In seinem »Weekend Essay« geht der New Yorker der Frage nach, wie es ist, Taylor Swift im Gefängnis zu hören. »Ihre Musik gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der Welt bin, die ich zurückgelassen habe«, gesteht der Autor Joe Garcia. Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Rundschau wird spekuliert, ob Taylor Swift den Nobelpreis bekommen könnte. Nicht für Popmusik, nein, für Wirtschaftswissenschaften. Zwar sei die Sängerin noch nicht durch einschlägige Theorien aufgefallen, »ihr Effekt auf die US-Volkswirtschaft ist aber unbestreitbar«. Ein paar Tage später erklärt dieselbe FR im Sportteil, »warum das Techtelmechtel zwischen Taylor Swift und Travis Kelce ein PR-Segen ist für die American Football Liga NFL« (Spoiler: Geld, Aufmerksamkeitsökonomie).
Ins oberste Regal greift Grimes. Mitte Oktober 2023 lässt die kanadische Sängerin wissen, dass einzig ihre Kollegin Taylor Swift die Gespaltenen Staaten von Amerika wieder vereinigen könnte – als Präsidentin. Überhaupt könne nur TS Donald Trump schlagen. So geht das Tag für Tag, Stunde um Stunde, Rekorde über Rekorde: neue Swiftonomics-Effekte, neue Swiftmania-Sensationen.
Da ist es nur logisch, dass eine Tageszeitung einen hauptamtlichen Taylor-Swift-Reporter (TSR) einstellt. Bryan West heißt der erste TSR der Welt, kommt aus Arizona und ist mit 35 im passenden Alter, TS ist 34. Als TSR ist West nun für The Tennessean und USA Today tätig, beide Zeitungen gehören dem Medienkonzern Gannett. »Der erfahrene Journalist hat sich in einem landesweiten Auswahlverfahren unter Hunderten von Bewerbern durchgesetzt«, berichtet der Spiegel und schiebt gleich einen eigenen Text nach: Wieso ich die perfekte Taylor-Swift-Reporterin bin – Ein Bewerbungsschreiben von Kim Staudt. Obwohl Kim Staudt als junge Frau von Alter und Geschlecht her besser für den Job geeignet gewesen wäre, hat sie ihn nicht bekommen, wahrscheinlich zu deutsch. Auch ich hatte kurz überlegt, mich zu bewerben, es aber dann gelassen. Keine Chance: zu alt, zu deutsch. Stattdessen habe ich eine Art Feldstudie zu TS gestartet, die bewusst genau diese Attribute in den Blick nimmt: alt und deutsch.
Der gigantische TS-Erfolg will verstanden werden, auch von uns Älteren, die wir glaubten, sie ignorieren zu können. TS boomt längst auch bei Boomern. Und Boomerinnen. Warum? Warum komme ich mir vor wie ein routinierter Jazzkritiker, der 1970 zum ersten mal die Beatles hört und zu ergründen versucht? Also frage ich bei Facebook, der Boomer-Plattform. »Mein komischer Beruf bringt es mit sich, dass ich versuche, den Erfolg von Taylor Swift zu verstehen. Wer kann helfen? Theorien? Lieblingssongs? Videos? Literatur?«
Was sagt nun meine Facebook-Blase in diesem Oktober 2023? Zwei Tage nach dem Massaker der Hamas in Israel und dem Wahltriumph der AfD in Hessen wird da nicht viel kommen, denke ich. Aber dann doch über zweihundert Kommentare in ein paar Stunden.
Die ersten Antworten spiegeln den herablassenden Ton der Frage. »Weil sie so spiessig und clean ist. Projektionsfläche für viele.« Schreibt Myriam Brüger, Jahrgang 1970, als DJ Melanie in den Neunzigern Aktivistin im Hamburger Pudel-Umfeld, später bei Pollesch an der Volksbühne. Auch Ernst Hofacker meldet sich, sechsundsechzigjähriger Routinier der deutschen Rockkritik (Musikexpress, Rolling-Stones-Biograf): »Gibt’s die wirklich? Ich dachte, die sei ein Langzeit-Experiment vom Musicians Institute, L. A., für den Einsatz von KI.«
In dem Stil geht’s weiter, viele brüsten sich, keinen einzigen Swift-Song zu kennen, Helene-Fischer-Vergleiche häufen sich. Sie habe »Durchschnittlichkeit zur Perfektion getrieben«, erklärt ein Martin. »Die negativen giftigen Kommentare hier haben hauptsächlich Männer verfaßt«, moniert Susanne Wolfram, TV-Produzentin im Ruhestand, und empfiehlt: »Hör mal Champagne Problems an. Vllt hilft es auch, wenn Du dazu Champagner trinkst.« Nein, hilft nicht. Julia Orth, Jahrgang 68, Marketing-Managerin mit Punk-Jugend in Frankfurt am Main, postet Shake It Off, Swifts discoides Aerobic-goes-Ballerina-Video, und empfiehlt, »mal die ›Jugend‹ zu befragen, bzw. Damen in den 20ern & frühen 30ern – die können das gut erläutern«. Gute Idee, aber jetzt wird es in meiner Ü50-Bubble interessant. Die Senioren-Swifties kommen aus der Deckung. Auch hier zeigt sich ein Gender Gap. Frauen sind inniger mit TS, sie beziehen sich gezielt auf einzelne Songs, Texte, Bilder, Swift-Stuff, der was bedeutet in ihrem Leben, wie guter Pop das tut (manchmal auch schlechter).
Männer nehmen eher das Große und Ganze ins Visier, TS als Zeichen der Zeit. Auftritt Tobias Rapp, Jahrgang 1971, seit Jahren Fan und beim Spiegel dafür zuständig, einem älteren Publikum neuere Pop-Phänomene so nahezubringen, dass dieses nicht das Gefühl haben muss, etwas zu verpassen: »Taylor Swift ist eine große Songwriterin. Aus der Country-Schule, sie kommt also immer vom Erzählerischen her, von der Geschichte. Nicht wie sehr viele andere Popsongs heute, die aus der Hiphop-Schule kommen und eher vom Ich her erzählen. Wie das eben im amerikanischen Pop ist: Das Handwerk hat den goldenen Boden.«
TS sei normcore, funktioniere »lagerübergreifend. Sehr inklusives Programm. Die ganzen Mikrounterscheidungen und all das, was andere (gerade weibliche) junge Popstars so betonen, dass sie eben ganz besonders und anders sind: Macht TS nicht.« Stattdessen pflege sie inklusiven »Freundinnen-Feminismus, jede darf mitmachen«. Klingt plausibel, aber macht wirklich jede mit? Auch die Bindestrich-Amerikanerinnen? TS löst Beyoncé, Rihanna, Lady Gaga ab und, auf längere Sicht, Madonna. Auf eine Afro-Amerikanerin, eine Karib-Amerikanerin und zwei Italo-Amerikanerinnen folgt eine Amerikanerin ohne Präfix, die in ihren Anfängen gerne als »American Sweetheart« bezeichnet respektive abgetan wurde. Oder als »All American Girl«.
Das neutral und inklusiv daherkommende All American meint natürlich: All American White Girl. Ihre Whiteness gepaart mit der Country-Grundierung des Nashville-Frühwerks macht TS zunächst auch für Trumpisten attraktiv, aber, so Robert Mießner in der taz: »Die Liebe, die Vertreter der US-amerikanischen Alt-Right Taylor Swift angetragen haben, hat die Künstlerin nicht erwidert.« Dennoch bleibt die Frage, ob TS nach den langen Beyoncé-Rihanna-Gaga- und, ja, auch Obama- und Black-Lives-Matter-Jahren nicht die Sehnsucht nach einem normalen American Idol erfüllt, nach einer Figur ohne Migrationsgeschichte, ohne Sklavereivergangenheit, ohne historischen Ballast, die »aber doch auf gewissen Mindeststandards an Feminismus, Antirassismus usw. beharrt«, so der Kollege Frank Eckert.