Heft 843, August 2019

(Supra)Nationales Europa

von Dirk Jörke

Im Vorfeld der Europawahl mehrten sich die Stimmen, die einen beherzten Ausbau der Europäischen Union vorschlagen. Ein jüngeres Beispiel dafür ist der offene Brief von Emmanuel Macron an die »Bürgerinnen und Bürger Europas«, in dem er nicht nur eine »europäische Agentur für den Schutz der Demokratie«, sondern auch einen »europaweiten Mindestlohn« fordert. Viele Intellektuelle erhoffen sich darüber hinaus durch die Erweiterung der Rechte des Europaparlaments und die Etablierung transnationaler Wahllisten eine echte Demokratisierung. Dabei orientieren sie sich oftmals an dem Zusammenschluss der US-amerikanischen Republiken im Jahr 1787 und der in Philadelphia ausgehandelten Unionsverfassung.

Und in der Tat sind die Parallelen zwischen der damaligen Situation und dem gegenwärtigen Bemühen, die supranationale Ebene zu demokratisieren, erhellend. Insbesondere die von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison verfassten Federalist Papers brachen mit der damals verbreiteten Überzeugung, demokratische (beziehungsweise im damaligen Sprachgebrauch »republikanische«) Verhältnisse seien lediglich in kleinen, überschaubaren Räumen realisierbar. Durch die Einführung des Repräsentativsystems, so Madison im berühmten zehnten Artikel der Federalist Papers, wäre eine Gewährleistung republikanischer Prinzipien auch in so großen Gebilden, wie sie mit einem Zusammenschluss der damals dreizehn Republiken geschaffen wurden, möglich gewesen. Doch nicht nur dies, darüber hinaus ermögliche die in großen Räumen erforderliche Selektion der Repräsentanten, dass nicht länger Demagogen, sondern nur die »wahren Wächter des öffentlichen Wohls« die Geschicke des Landes bestimmen. Dieser Argumentation widersprachen die sogenannten Anti-Federalists, die sich dem mit der neuen Union einhergehenden Souveränitätstransfer entgegenstellten und für den Fortbestand der alten föderalistischen Ordnung eintraten, wie sie in den nach der Erlangung der Unabhängigkeit vereinbarten Articles of Confederation bestanden hatte. Die Konföderationsartikel sahen durchaus eine enge Zusammenarbeit der Republiken vor, verzichteten aber auf eine eigene Legitimation der föderalen Ebene. Entsprechend handelte es sich bei den Vertretern im Kongress um Delegierte, die den Parlamenten der jeweiligen Republiken gegenüber rechenschaftspflichtig waren.

Eines der zentralen Argumente der Anti-Federalists gegen die neue Verfassung von 1787 war das der räumlichen Ausdehnung. Dabei hatten sie sowohl die unterschiedlichen ökonomischen Strukturen als auch die ausgeprägten Mentalitätsunterschiede zwischen den Republiken des Nordens und denen des Südens im Sinn. Gegen eine engere Vereinigung sprachen ihnen zufolge – und dabei stützten sie sich auf Argumente von Montesquieu und Rousseau – erhebliche Interessensgegensätze auf der einen und die Nichtexistenz einer gemeinsamen politischen Kultur auf der anderen Seite. Zudem befürchteten die Anti-Federalists eine beträchtliche Abschwächung demokratischer Einflussnahme als Folge des größeren politischen Raums. Die politischen Eliten würden sich nicht nur deutlicher von der Mehrheit der Bürger unterscheiden, sie würden sich im fernen Philadelphia auch weniger leicht kontrollieren lassen. Das Resultat seien despotische Verhältnisse.

Die Europäische Union ist gewiss keine Despotie, wie die Anti-Federalists es mit Blick auf die neue US-amerikanische Union beschworen hatten. Doch hat sie sich in den letzten Jahren zunehmend zu einem liberal-autoritären Regime entwickelt. Was sich paradox anhört, beschreibt eine Realität, in der die Durchsetzung spezifisch liberaler Zielvorsetzungen zunehmend gegen den Willen der Bevölkerungen erfolgt, weil wesentliche Politikbereiche ihrer Einflussnahme entzogen worden sind. Zum einen sind zentrale Politikfelder – etwa das Wettbewerbsrecht, die Frage des internationalen Kapitalverkehrs, die sogenannten Stabilitätskriterien – bereits im Vertragsrecht geregelt und haben damit gleichsam Verfassungsrang erhalten, sind also sakrosankt. Zum anderen wurden mit dem Europäischen Gerichtshof, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank gestaltungsmächtige Institutionen etabliert, die einer demokratischen Einflussnahme weitestgehend entzogen sind. Insofern die europäische Ebene den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen beschränkt hat, ist es zu einem Verlust an demokratischer Gestaltungsmacht gekommen, und das hat auch etwas mit der Größe der Europäischen Union zu tun.

Die Römischen Verträge von 1957 unterzeichneten sechs Staaten. Mittlerweile, nach insgesamt sieben Erweiterungsrunden, gibt es 28 beziehungsweise bald 27 Mitgliedstaaten. Betrug die Gesamtbevölkerung der Gründungsmitglieder im Jahr 1957 etwa 168 (aktuell 236) Millionen, so sind es mit Blick auf die gesamte Europäische Union heute 512 Millionen. Auch räumlich ist es zu einer erheblichen Vergrößerung gekommen, nämlich von etwa 1 178 000 auf 4 381 324 Quadratkilometer. Schließlich stieg die Zahl der Amtssprachen von sechs auf 24. All das stellt die Europäische Union vor erhebliche Herausforderungen und verhindert ihre Demokratisierung oder den Ausbau einer Sozialunion. Die Größe der Europäischen Union und die damit einhergehende ökonomische, politische und kulturelle Heterogenität sind mithin eine Ursache dafür, dass den seit gut drei Jahrzehnten zu beobachtenden negativen Auswirkungen der Europäisierung auf den Zustand der nationalstaatlichen Demokratien auf der supranationalen Ebene nicht begegnet werden kann.

Die integrationsfreundlichen Maßnahmen der vergangenen dreißig Jahre konnten sich auf das »Primärrecht« stützen, das zunehmend expansiv ausgelegt wurde. Als solches werden jene inhaltlichen Bestimmungen bezeichnet, die in den Verträgen der Europäischen Union festgehalten sind, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik. Hier erfolgt ein entpolitisierter Modus der Durchsetzung vor allem der europäischen Grundfreiheiten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Die durch die Kommission betriebenen Maßnahmen einer »negativen Integration« (Scharpf), worunter vor allem der Abbau von »Wettbewerbsverzerrungen« fällt, haben einen wirtschaftspolitischen Rahmen erzeugt, der den gewählten Vertretern auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene kaum noch Spielraum für die Verfolgung einer eigenständigen Agenda lässt, etwa hinsichtlich der Subventionierung einheimischer Industrien oder der Bevorzugung lokaler Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen. Hervorzuheben ist nicht zuletzt die sehr integrationsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, durch die immer mehr Politikfelder der Gesetzgebung, aber auch dem Verwaltungshandeln der Nationalstaaten entzogen wurden.