Too Too-Much Much
Ein neuer Blick auf International Art English von Wolfgang KempEin neuer Blick auf International Art English
International Art English, IAE, so heißt die Formel, die Alix Rule und David Levine 2012 geprägt haben, in einem Text, der 2018 noch einmal unverändert, aber mit kritischen Stellungnahmen und einer Bibliografie veröffentlicht wurde.1 Der Erscheinungsort ist in beiden Fällen die Internet-Zeitschrift Triple Canopy; auf Deutsch erschien der Aufsatz 2013 im Merkur.2 Im englischsprachigen Raum wurde der Text aufmerksam registriert und heftig diskutiert; in Deutschland blieb ein Echo aus.3 Das 2016 herausgebrachte Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation hat die Arbeit nicht einmal bibliografisch verzeichnet.
»International Art English«: Auch der Untertitel und vor allem das im Original gesperrte Wort sind wichtig: »On the rise – and the space – of the art-world press release«. Die generelle Bezeichnung »art« ist auf zeitgenössische Kunst einzuschränken; die Sprache ist Englisch, die Sprecher, besser: Schreiber sind überall auf der Welt tätig. Das Material, aus dem Rule und Levine die wesentlichen Züge dieser Lingua franca des Kunstfelds extrahieren, ist die kleine Form der Pressemitteilungen, wie sie Galerien, Museen und Ausstellungshäuser herausgeben und auf der Plattform e-flux publik machen. Natürlich können die anonym bleibenden Autoren in der gebotenen Kürze nicht beschreiben, vergleichen, erläutern, deuten und urteilen. Ihre Texte sind auch ohne diese Darstellungsarten von hohem Interesse, weil sie den Kunst-Diskurs (ihr Wort) zu einem Präparat konzentrieren und natürlich immer topaktuell sein müssen. In ihrer hochverdichteten Form werden sie selbst unverwechselbar: Rule und Levine nennen diese Sprache »oddly pornographic«. »We know it when we see it. No one would deny its distinctiveness.«4
Rule und Levine haben diesen Korpus automatischen Textanalysen unterzogen, was seine Vorteile und Nachteile hat. Es gelingt leicht, Worthäufigkeiten festzustellen und auf lexikalischer Ebene den spezifischen Wortgebrauch einer Fachsprache zu ermitteln sowie diachron Veränderungen zu identifizieren. Wie der Untertitel andeutet: »Space« ist für Artspeak das Hauptwort aller Hauptworte, verdünnt und vermehrt in einer langen Reihe dazugehöriger Substantive und Sachverhalte. Unverzichtbar sind terms wie: intersection, parallel, void, enfold, involution, displacement, liminal, rupture, platform, abyss, site. Im Deutschen geht nichts ohne Position, Aporie, Dystopie, Choreografie, rhizomatisch, Schwelle usw. »Space« ist kein Schlüsselbegriff, sondern ein Begriffscontainer, in den viel hineinpasst. Warum man ihn braucht, sagen uns Rule und Levine nicht.
Sie erwähnen nicht einmal den naheliegenden Tatbestand, dass seit Jahrzehnten Installation und Performance, also raumbezogene Kunstformen, als die Leitgattungen des Kunstschaffens gelten dürfen. Diese Raumfixierung hat nichts Selbstverständliches an sich – vorher besaß immerhin die »Heilige Fläche« das Mandat. Dieses Kunstwollen, wie man früher gesagt hätte, bedarf der Erklärung, und man kommt, was eine mögliche Relation von Kunstpraxis und Sprachhandlung betrifft, nur weiter, wenn man zu Grundstrukturen vordringt. Und das heißt in Bezug auf die Texte zur Satzsemantik und in Bezug auf die Kunstwerke zur Kompositionssemantik. Rule und Levine machen in erster Hinsicht ein paar schöne Beobachtungen, freihändig, weil der Computer sie da verlässt. Nach dem Aussagewert von IAE in Bezug auf das große A fragen sie nicht.
Nur kurz zur Entstehungsgeschichte von IAE: Die New Yorker Rule und Levine tippen auf New York, genauer auf Manhattan und auf die 1976 gegründete Zeitschrift October, deren Autoren in den achtziger Jahren Kunstkritik, Kunstgeschichte und Medienanalyse mithilfe einer Fusion aus französischem Poststrukturalismus und Frankfurter Schule umschrieben. Diese Herleitung greift zu kurz. Sie müsste auf andere Nachwende-Akteure und -Institutionen ausgeweitet werden, auf die rasante Vervielfältigung des Ausstellungsformats Biennale (von vier bis fünf Biennalen 1989 auf etwa zweihundert heute, verteilt auf alle Weltgegenden) oder auf das Wirken der Soros-Stiftung, die nach 1989 die Initiativen von Künstlern und Kunstvereinen in allen Staaten des ehemaligen Ostblocks unterstützte. Die treibende Kraft war Susan Weber, die Frau von George Soros.
Frappierende Reglosigkeit
Aber bleiben wir der Einfachheit halber erst einmal bei October und nehmen uns einen Satz aus einem klassischen, oft rezipierten Text vor: »Going against the grain of institutional habits and desires, and continuing to resist the commodification of art in /for the market place, site-specific art adopts strategies that are either aggressively antivisual – informational, textual, expositional, didactic – or immaterial altogether – gestures, events, or performances bracketed by temporal boundaries.«5 Selten wurde der Passus nach einem Komma so ersehnt wie nach dem zweiten: Nach 21 Wörtern wird dem semikomatösen Leser angeboten, was das Subjekt des Satzes, ja der Gegenstand des ganzen Essays sein soll: »site-specific art«, das macht wach, das immerhin teilt sich einem mit, bevor die zweite Satzhälfte mit ihrer Aneinanderreihung von 25 Wörtern kein Ende nehmen möchte.
Wie Rule und Levine ganz richtig schreiben: »Im Übrigen empfiehlt es sich stets, bei IAE lieber zu viele als zu wenige Worte zu gebrauchen.« Die quantitative Überforderung ist das Eine, qualitativ fällt auf, dass die Verfasserin entpersönlicht und eine Kunstrichtung als das Agens einsetzt, das all diese wunderbaren Dinge verrichtet und vor allem richtig tut. Was aber das Mechanische des Satzbaus und nicht nur seine Füllmenge angeht, so tendieren laut Rule und Levine die IAE-Autoren dazu, »so viele Nebensätze wie möglich einzuschieben, um die einfache Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur in ein verräumlichtes Gefüge von frappierender Reglosigkeit zu überführen«. Dem Urteil sei sofort zugestimmt, der Herleitung nur bedingt. Unser Beispiel hat zwei Nebensätze und keine Schachtelsätze; wichtiger ist, dass der Text mit einer doppelten Attribution (»going«, »continuing«) beginnt, die sich, als Nebensatz verkleidet, durch eine gewaltige Wortfolge wichtig macht.
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