Tunesiens revolutionäres Jahrzehnt
von Tom StevensonBis vor kurzem galt die Entwicklung Tunesiens als die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings. Doch am 25. Juli 2021 zitierte Präsident Kais Saied den Premierminister in den Präsidentenpalast in Karthago und entließ ihn, rief den Ausnahmezustand aus, suspendierte das Parlament und schickte die Armee, um die Zugänge zum Gebäude abzuriegeln. In den folgenden achtundvierzig Stunden wurde eine landesweite Ausgangssperre verhängt, der Leiter des staatlichen Fernsehsenders ausgetauscht und gewählten Amtsträgern die Immunität entzogen. Saied setzte die vielgepriesene postrevolutionäre Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und regierte per Dekret. Seitdem wurden Regionalgouverneure abgesetzt, Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, etliche Oppositionspolitiker inhaftiert und andere in Abwesenheit zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Einige flohen oder haben es versucht. Nabil Karoui, der Zweitplatzierte bei den Präsidentschaftswahlen 2019, entkam über Gebirgspässe, wurde aber in Algerien festgenommen. Dass der Präsident selbst für den Staatsstreich verantwortlich und nicht etwa dessen Ziel war, stellt historisch keine Ausnahme dar. Für einen Selbstputsch gibt es viele Beispielfälle, aber diesmal war bemerkenswert, dass zwei Monate bevor der Staatsstreich tatsächlich stattfand, der Presse ein Plan zugespielt worden war, der den Ablauf der Ereignisse nahezu exakt beschrieb. Die Verschwörung war aufgedeckt worden, gleichwohl war sie erfolgreich.
Wo war der zivilgesellschaftliche Widerstand, wo die politische Opposition? Die religiös-konservative Ennahda-Partei, in Tunesien noch immer die am besten organisierte politische Bewegung, stellte keine große Herausforderung dar. Die verstreuten Proteste gegen den Staatsstreich waren zu geringfügig und kamen zu spät. Gegenseitige Ranküne verhinderte eine einheitliche Opposition. Die Gewerkschaften zeigten sich ambivalent und forderten einen nationalen Dialog, der jedoch nie stattfand. Die Kräfte der inneren Sicherheit unterstützten die Position des Präsidenten, ebenso die Armee. Es kann nicht geschadet haben, dass ein ehemaliger Generalstabschef der Armee und ein Marinechef im Ruhestand Saieds Berater für nationale Sicherheit waren.
Im Sommer 2022, am Jahrestag des Staatsstreichs, wurde ein Referendum über eine neue Verfassung abgehalten, die Saieds Erfolge konsolidieren soll. Im Gegensatz zu ihrer postrevolutionären Vorgängerin wurde der neue Entwurf vom Büro des Präsidenten zusammengeschustert und gewährte Saied das Recht, die Befugnisse eines neuen Parlaments zu bestimmen. Der angebliche Leiter des Verfassungskomitees, Sadok Belaid, erklärte öffentlich, dass die Verfassung zu einem »schändlichen diktatorischen Regime« führen würde. Das Referendum wurde von den meisten Oppositionsparteien und dem größten Teil der Wahlberechtigten boykottiert. Die Wahlbeteiligung lag bei kaum über 30 Prozent, und die veröffentlichte Aufschlüsselung der Ergebnisse sah verdächtig aus. Die 95 Prozent Ja-Stimmen erlaubten es Saied, einen überwältigenden Sieg zu verkünden, aber da die lokalen und internationalen Wahlbeobachter die Abstimmung nicht überwachen konnten, ist es unmöglich, dem Ergebnis zu vertrauen. Saied hatte den Boden bereitet, indem er die Unabhängige Hohe Behörde für Wahlen mit seinen eigenen Anhängern besetzt, den Obersten Justizrat aufgelöst und eine ganze Generation von Richtern (insgesamt 57) entlassen hatte.
Die wichtigsten Errungenschaften der tunesischen Revolution von 2011 – die Beendigung der dreiundzwanzig Jahre währenden Diktatur unter Ben Ali und die Einführung einer parlamentarischen Politik – scheinen sich nur ein Jahrzehnt gehalten zu haben. Saieds neue Ordnung wird durch Gewalt aufrechterhalten. Im Zentrum von Tunis sind so viele Sicherheitskräfte präsent wie nie zuvor. Zäune schränken den Zugang ein zum Kasbah-Platz, dem symbolischen Herzen der Revolution, und Polizeiposten und Metallbarrikaden gehören zum festen Inventar in den Straßen. Die beiden gepanzerten Fahrzeuge, die früher die Statue Ibn Chaldūns in der Avenue Habib Bourguiba bewachten, sind zurückgekehrt. Auch der verbeulte Polizeiwagen, der einst unter dem Bab El Bhar am Zugang zur Altstadt stand, ist wieder da. Als ich die Stadt im September besuchte, gab es auf den Märkten lange Warteschlangen: Es herrscht ein Mangel an Speiseöl. Die wirtschaftliche Misere ist in allen Vierteln sichtbar, außer den schicksten.
In Tunis gibt es nicht die extreme Not, der man in den Slums von Kairo begegnet. Was diesen am nächsten kommt, sind Semi-Slums, die den Ruf haben, nach Einbruch der Dunkelheit gefährlich zu sein. Diese Gebiete sind am stärksten vom Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel betroffen. In Douar Hicher, nordwestlich des Stadtzentrums, sah ich, wie Bewohner demonstrierend durch die Straßen marschierten und Autoreifen verbrannten. In Mornag, einem anderen Arbeiterviertel, wurden ähnliche Aktionen mit Tränengas niedergehalten. Als ich in nördlicher Richtung durch die Stadt fuhr, vom Bab El Khadra zum Bab Saadoun, boten Straßenhändler auf mit Pappe ausgelegten Karren ausrangierte Elektrogeräte, Kabel und gebrauchte Gürtel feil. In Djebel Lahmar, einer Ansammlung von engen Gassen, gesäumt von Hütten, deren Dächer aus alten Möbelstücken zusammengeflickt sind, erzählten mir Ladenbesitzer, dass sie sich Sorgen wegen des Zuckermangels machten.
An diesem Tag meldete die staatliche Nachrichtenagentur Tunis Afrique Presse, dass ein mit brasilianischem Zuckerrohr beladenes maltesisches Schiff in Bizerte angelegt hatte. Was die Zuckerknappheit betraf, war das eine gute Nachricht, aber ein heikles Thema für die wichtigste Nachrichtenagentur des Landes, die darüber berichten musste. Seit dem Staatsstreich ist es schwieriger geworden, unabhängige Informationsquellen ausfindig zu machen. Im August verurteilte ein Militärgericht Salah Attia, den Herausgeber einer Nachrichten-Website, zu drei Monaten Gefängnis, weil er den Präsidenten im Fernsehen kritisiert hatte. Im September verkündete Saied ein neues Gesetz, das Gefängnisstrafen für die »Verbreitung von Falschinformationen« vorsieht. Der Chefredakteur der unabhängigen Nachrichtenagentur Inhiyez wurde verhaftet, nachdem die Polizei sein Haus durchsucht und seine Computer beschlagnahmt hatte. Die willkürliche Polizeibrutalität hat zugenommen, ebenso ist die Anzahl der Verhaftungen von Aktivisten gewachsen, die ein gewaltsames Vorgehen der Polizei dokumentieren.
Bevor er zum Putschisten wurde, war Saied Verfassungsrechtler. In den Jahren nach der Revolution trat er regelmäßig im Fernsehen als Kommentator zu Verfassungsfragen auf; eine seiner Beobachtungen war, dass Verfassungen dazu tendieren, zu Werkzeugen der Exekutivgewalt zu werden. 2019 errang er die Präsidentschaft, indem er sich als Außenseiter präsentierte. Daran war etwas Wahres: Vor der Revolution war er ein kleiner Akademiker in der Hauptstadt gewesen. Aber es war auch eine Vereinfachung: Er hatte dieselbe Schule in Tunis besucht wie drei frühere Präsidenten. Sein Markenzeichen, ein konservativer Nationalismus, gepaart mit einem zur Schau getragenen Asketentum, erwies sich als populär. Das galt auch für sein Versprechen, die politische Korruption zu beseitigen und das Prestige des Staates (haybat ad-dawla) wiederherzustellen. Seine Gegner sagen Saied die Arroganz und Unnachgiebigkeit eines Apostels nach. Weil er sich gegen die Islamisten positionierte, ist er in Ägypten und in den Golfstaaten auf Gegenliebe gestoßen. In den Medien äußert er sich dezidiert zu den Räubereien der Reichen und der Notwendigkeit einer direkten Demokratie. Dieser Anstrich von revolutionärer Rhetorik hilft ihm gegen politische Kontrahenten, scheint jedoch nie wirklich auf etwas hinauszulaufen.
Das Beratergremium, das Saied zusammengestellt hat, operiert überwiegend im Verborgenen. Seine erste Stabschefin, Nadia Akacha, ebenfalls Verfassungsrechtlerin, sprach sich für das neue Regime aus, doch im Januar 2022 kam es zu einem öffentlich ausgetragenen Zerwürfnis zwischen den beiden – Akacha befindet sich jetzt im Pariser Exil. Die anderen Mitglieder des Präsidialrats treten nur selten in der Öffentlichkeit auf. In La Marsa, einem wohlhabenden Küstenviertel am Rand von Tunis, traf ich Hamadi Redissi, einen Politikwissenschaftler, der eine detaillierte Untersuchung zu Saieds Aufstieg durchgeführt hat. Er sagte mir, dass der Staatsstreich von zwei Kräften unterstützt wurde. Erstens dem Netzwerk von Parteigängern und Agitatoren, die aus der allgemeinen Frustration über die Krisen des revolutionären Jahrzehnts Kapital geschlagen haben. Zweitens den Mitgliedern der Bourgeoisie, die Saieds Vorgehen gegen die tunesischen Gewerkschaften und die religiösen Konservativen befürworteten. »Den Unterstützern des Präsidenten und des Staatsstreichs liegt sehr viel daran, dass gegen die Islamisten eingeschritten wird«, sagte Redissi. Aber ein weiterer Aspekt ist die brutale Einschüchterung durch den Staat. »Die Menschen haben Angst vor Kais Saied, und ich verstehe, warum.«
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