Heft 885, Februar 2023

Tunesiens revolutionäres Jahrzehnt

von Tom Stevenson

Bis vor kurzem galt die Entwicklung Tunesiens als die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings. Doch am 25. Juli 2021 zitierte Präsident Kais Saied den Premierminister in den Präsidentenpalast in Karthago und entließ ihn, rief den Ausnahmezustand aus, suspendierte das Parlament und schickte die Armee, um die Zugänge zum Gebäude abzuriegeln. In den folgenden achtundvierzig Stunden wurde eine landesweite Ausgangssperre verhängt, der Leiter des staatlichen Fernsehsenders ausgetauscht und gewählten Amtsträgern die Immunität entzogen. Saied setzte die vielgepriesene postrevolutionäre Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und regierte per Dekret. Seitdem wurden Regionalgouverneure abgesetzt, Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, etliche Oppositionspolitiker inhaftiert und andere in Abwesenheit zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Einige flohen oder haben es versucht. Nabil Karoui, der Zweitplatzierte bei den Präsidentschaftswahlen 2019, entkam über Gebirgspässe, wurde aber in Algerien festgenommen. Dass der Präsident selbst für den Staatsstreich verantwortlich und nicht etwa dessen Ziel war, stellt historisch keine Ausnahme dar. Für einen Selbstputsch gibt es viele Beispielfälle, aber diesmal war bemerkenswert, dass zwei Monate bevor der Staatsstreich tatsächlich stattfand, der Presse ein Plan zugespielt worden war, der den Ablauf der Ereignisse nahezu exakt beschrieb. Die Verschwörung war aufgedeckt worden, gleichwohl war sie erfolgreich.

Wo war der zivilgesellschaftliche Widerstand, wo die politische Opposition? Die religiös-konservative Ennahda-Partei, in Tunesien noch immer die am besten organisierte politische Bewegung, stellte keine große Herausforderung dar. Die verstreuten Proteste gegen den Staatsstreich waren zu geringfügig und kamen zu spät. Gegenseitige Ranküne verhinderte eine einheitliche Opposition. Die Gewerkschaften zeigten sich ambivalent und forderten einen nationalen Dialog, der jedoch nie stattfand. Die Kräfte der inneren Sicherheit unterstützten die Position des Präsidenten, ebenso die Armee. Es kann nicht geschadet haben, dass ein ehemaliger Generalstabschef der Armee und ein Marinechef im Ruhestand Saieds Berater für nationale Sicherheit waren.

Im Sommer 2022, am Jahrestag des Staatsstreichs, wurde ein Referendum über eine neue Verfassung abgehalten, die Saieds Erfolge konsolidieren soll. Im Gegensatz zu ihrer postrevolutionären Vorgängerin wurde der neue Entwurf vom Büro des Präsidenten zusammengeschustert und gewährte Saied das Recht, die Befugnisse eines neuen Parlaments zu bestimmen. Der angebliche Leiter des Verfassungskomitees, Sadok Belaid, erklärte öffentlich, dass die Verfassung zu einem »schändlichen diktatorischen Regime« führen würde. Das Referendum wurde von den meisten Oppositionsparteien und dem größten Teil der Wahlberechtigten boykottiert. Die Wahlbeteiligung lag bei kaum über 30 Prozent, und die veröffentlichte Aufschlüsselung der Ergebnisse sah verdächtig aus. Die 95 Prozent Ja-Stimmen erlaubten es Saied, einen überwältigenden Sieg zu verkünden, aber da die lokalen und internationalen Wahlbeobachter die Abstimmung nicht überwachen konnten, ist es unmöglich, dem Ergebnis zu vertrauen. Saied hatte den Boden bereitet, indem er die Unabhängige Hohe Behörde für Wahlen mit seinen eigenen Anhängern besetzt, den Obersten Justizrat aufgelöst und eine ganze Generation von Richtern (insgesamt 57) entlassen hatte.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors