Twitter, die Nähe-Maschine
von C. Thi NguyenTwitter macht uns ein verführerisches Versprechen: die Möglichkeit der Verbindung mit vollkommen Fremden. Auf Twitter können wir Leute entdecken, die unsere moralischen Ansichten teilen – oder immerhin unseren schrägen Geschmack in Sachen Memes. Manchmal werden wir bei Twitter Teil einer warmen und intimen Gemeinschaft. Aber Twitter drückt uns zugleich die perfekte Waffe zur Ausbeutung dieser Intimität in die Hand: den Retweet.
Die meisten von uns verbringen ihre Zeit auf Twitter in sehr ruhigen Gewässern. Wir chatten im Kreis von Bekannten, die Kontexte sind geteilt und vertraut. Wir schreiben in einer Art gemeinsamem Kode; wir machen ironische Bemerkungen und erklären sie nicht. Manchmal kann einem Twitter vorkommen wie eine lange Folge von Insider-Witzen.
Aber Twitter stellt auch selbst die Instrumente zur Verfügung, mit denen man diese Insider-Witze aus ihrem Kontext reißen, ja in Räume weit jenseits ihrer heimischen Community katapultieren kann – vor die Augen von Menschen, denen Sympathie mit uns fernliegt. Oft sind Herabwürdigung und Beschämung die Folge. Die Häufigkeit der Kontext-Zerstörung ist keineswegs Zufall. Twitter belohnt das kontextgesättigte Sprechen und macht es zugleich extrem einfach, das Gesagte zu dekontextualisieren. Twitter ist so gebaut, dass es sich für unsere verletzlichen Seiten öffnet und uns dann für unsere offenen Äußerungen bestraft.
Um zu verstehen, wie Twitter das macht, scheint mir etwas zunächst scheinbar Fernliegendes hilfreich: Ted Cohens Theorie des Witzes. Cohen war ein Kunstphilosoph und einer der wenigen Denker der Intimität. Und vernarrt in Witze. Er sammelte sie und hat dann in seinem hinreißenden kleinen Buch Jokes eine Theorie dazu geliefert.
Cohen analysiert darin nicht Humor schlechthin, sondern die sehr spezifische Form, die wir Witz nennen – die Sorte mit Set-Up und Pointe. Für ihn beruhen Witze auf Intimität. Sie setzen eine bestehende Verbindung voraus, und wenn sie gelingen, dann vertiefen sie diese Verbindung. Witze, so Cohen, haben eine grundlegende Struktur. Alle Witze verlangen, dass die Erzählerin oder der Erzähler und die Zuhörenden Hintergrundwissen teilen. Damit der Witz funktioniert, muss dieses Hintergrundwissen aber implizit bleiben. Ein Witz endet im Desaster, wenn der, der ihn erzählt, das Publikum mit der ausdrücklichen Erklärung des Vorausgesetzten vorzubereiten versucht. Es ist essentiell, dass uns das plötzliche Auftauchen des geteilten Wissens mitten im Witz überrascht.
Hier ein Beispiel von Cohen: »The thing about German food is that no matter how much you eat, an hour later you’re hungry for power.«
Vielleicht haben Sie gelacht. Vielleicht auch nicht. Wenn Sie gelacht haben, dann, weil sie zwei Dinge bereits kannten: die (nicht unrassistische) Redensart vom Hunger, der einen schon eine Stunde nach einer chinesischen Mahlzeit wieder überfällt; und das Stereotyp vom Machthunger der Deutschen. Cohen bemerkt, dass der Witz vermutlich lustiger ist, wenn man das Stereotyp für wenigstens ein bisschen zutreffend hält. Wenn ich vor dem Erzählen des Witzes das alles erst umständlich erklärt hätte (»Um den folgenden Witz zu verstehen, muss man die Redensart vom Hunger kennen, der einen schon eine Stunde nach einer chinesischen Mahlzeit wieder überfällt …«), dann hätte das den Witz unweigerlich ruiniert.
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