Heft 874, März 2022

Twitter, die Nähe-Maschine

von C. Thi Nguyen

Twitter macht uns ein verführerisches Versprechen: die Möglichkeit der Verbindung mit vollkommen Fremden. Auf Twitter können wir Leute entdecken, die unsere moralischen Ansichten teilen – oder immerhin unseren schrägen Geschmack in Sachen Memes. Manchmal werden wir bei Twitter Teil einer warmen und intimen Gemeinschaft. Aber Twitter drückt uns zugleich die perfekte Waffe zur Ausbeutung dieser Intimität in die Hand: den Retweet.

Die meisten von uns verbringen ihre Zeit auf Twitter in sehr ruhigen Gewässern. Wir chatten im Kreis von Bekannten, die Kontexte sind geteilt und vertraut. Wir schreiben in einer Art gemeinsamem Kode; wir machen ironische Bemerkungen und erklären sie nicht. Manchmal kann einem Twitter vorkommen wie eine lange Folge von Insider-Witzen.

Aber Twitter stellt auch selbst die Instrumente zur Verfügung, mit denen man diese Insider-Witze aus ihrem Kontext reißen, ja in Räume weit jenseits ihrer heimischen Community katapultieren kann – vor die Augen von Menschen, denen Sympathie mit uns fernliegt. Oft sind Herabwürdigung und Beschämung die Folge. Die Häufigkeit der Kontext-Zerstörung ist keineswegs Zufall. Twitter belohnt das kontextgesättigte Sprechen und macht es zugleich extrem einfach, das Gesagte zu dekontextualisieren. Twitter ist so gebaut, dass es sich für unsere verletzlichen Seiten öffnet und uns dann für unsere offenen Äußerungen bestraft.

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