Heft 859, Dezember 2020

Über ein Recht auf Fortpflanzung

von Ute Sacksofsky

Früher waren Kinder ein Geschenk, ein Wunder, manchmal auch eine Katastrophe – jedenfalls war Elternwerden Schicksal. Die Reproduktionsmedizin verspricht die Befreiung aus der Abhängigkeit: nicht länger dem Schicksal ausgeliefert sein, sondern selbst gestalten. Kinderwünsche können befriedigt werden, unabhängig von herkömmlichen Zeugungswegen, körperlichen Einschränkungen und voranschreitendem Alter, sogar Eigenschaften des Wunschkinds können ausgewählt werden.1

Die Anwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren wie auch die Forschungspraxis werfen allerdings vielfältige und komplexe rechtliche Fragen auf. In anderen Rechtsgebieten hat der Globalisierungsschub der vergangenen Jahrzehnte weltweit zu einer Angleichung der unterschiedlichen Rechtssysteme geführt. Für die Reproduktionsmedizin gilt das nicht. Im Gegenteil: Die Unterschiede zwischen den Regelungsmodellen könnten kaum größer sein. Es gibt Länder, in denen praktisch alle Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin erprobt und eingesetzt werden dürfen. Dieses sehr liberale Regelungsmodell haben etwa Großbritannien, Kalifornien und einige weitere Einzelstaaten der USA sowie die Ukraine und Israel gewählt. Es gibt aber auch Länder wie etwa Italien oder Polen, beide stark vom Katholizismus geprägt, in denen die reproduktionsmedizinische Praxis und Forschung intensiv reguliert und vieles verboten ist.

Hierzulande zeichnet sich die Situation durch drei wesentliche Merkmale aus. Zum Ersten gilt in Deutschland ein ausgesprochen restriktives Regelungsmodell. Generell verboten sind Eizellspende und Leihmutterschaft; die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist nur sehr eingeschränkt zulässig – und dies erst seit kurzem. Erlaubt ist in Deutschland im Wesentlichen nur die Samenspende, aber selbst diese ist – freilich aufgrund der Richtlinien der Ärztekammern – nicht für alle zugänglich. Charakteristisch ist zweitens, dass in Deutschland die gesamte Debatte unter dem Zeichen des Embryonenschutzes steht. Dies sieht man schon am Namen der wichtigsten Rechtsnorm, die die Reproduktionsmedizin regelt: Während andere Länder ein Fortpflanzungsmedizingesetz kennen, heißt das entsprechende deutsche Gesetz »Embryonenschutzgesetz«. Und drittens ist in Deutschland Regelungsinstrument primär das Strafrecht. Das Embryonenschutzgesetz enthält eine Vielzahl von Verboten und setzt als Sanktion Strafnormen ein.

Das Embryonenschutzgesetz ist allerdings auch in die Jahre gekommen: Es stammt aus dem Jahr 1990 und erweist sich mit lediglich zwei Änderungen aus den Jahren 2001 und 2011 als beständiger als das Grundgesetz (das im vergleichbaren Zeitraum fast dreißig Änderungen erfahren hat). Seither hat sich in der reproduktionsmedizinischen Forschung viel getan. Dass die Schaffung eines Fortpflanzungsmedizingesetzes auf die politische Tagesordnung gehört, ist daher unter Kennerinnen und Kennern der Materie kaum streitig – wohl aber der Inhalt eines solchen Gesetzes.

Mit den restriktiven Regelungen des Embryonenschutzgesetzes sind viele unzufrieden: Reproduktionsmedizinerinnen, die Forschenden in diesem Bereich und die Menschen, die gerne Eltern werden wollen. Manche dieser Paare weichen – wenn sie es sich denn leisten können – ins Ausland aus und nehmen dort Dienstleistungen, insbesondere Leihmutterschaft, in Anspruch.

Recht auf Fortpflanzung als Grundrecht?

Viele Menschen haben ein elementares Interesse daran, sich fortzupflanzen. Die Schätzungen, wie viele Paare in Deutschland von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind, reichen von einer halben bis zu anderthalb Millionen Paaren. Ein unerfüllter Kinderwunsch kann zu erheblichen seelischen Belastungen führen. Doch aus dem Umstand, dass Kinderhaben für manche Menschen ein zentraler Bestandteil ihrer Vorstellungen von einem guten Leben ist, lässt sich nicht zwingend ableiten, dass dieses Interesse deshalb auch grundrechtlich geadelt werden müsste.

Sicherlich ist die Inanspruchnahme von Methoden der Fortpflanzungsmedizin als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Die allgemeine Handlungsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht als Auffanggrundrecht verstanden und erfasst alles menschliche Tun. Nach dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip muss der Staat Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen, die Einzelnen müssen für die Ausübung ihrer Freiheit hingegen keine Gründe angeben (können). Selbstverständlich fällt auch die Anwendung reproduktionsmedizinischer Methoden in den Schutzbereich dieser so weit gefassten allgemeinen Handlungsfreiheit – ebenso wie das Taubenfüttern im Park, das Reiten im Wald oder das Rasen auf Autobahnen. Man kann all diese Handlungen zu »Rechten« stilisieren – in den achtziger Jahren wurde ein »Recht auf Umweltverschmutzung« diskutiert –, aber gesagt wird damit eben nicht mehr, als dass der Staat Gründe haben muss, um diese Handlungen zu beschränken.

Wer ein »Recht auf Fortpflanzung« behaupten möchte, muss sich deshalb auf spezifische Grundrechte berufen. Zwei Kandidaten bieten sich dafür an: das Recht auf Schutz der Familie und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht.

Ein Recht auf Fortpflanzung wird häufig als Teil des Rechts auf Familiengründung verhandelt. Die Forderung nach einem Recht auf Familiengründung ist aber schon deshalb problematisch, weil es in engem Zusammenhang mit der traditionellen Konzeption der Ehe steht. Nicht umsonst stellt Art. 6 Abs. 1 GG »Ehe und Familie« unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Nach herkömmlichem Verständnis zielt gerade die (heterosexuelle) Eheschließung auf die Gründung einer Familie. Ein solches Recht auf Familiengründung schleppt den ganzen Ballast der patriarchalen Ehe mit sich. Schon die Betonung auf »Familiengründung« zeigt, dass es nicht allein um Fortpflanzung von Individuen geht, sondern um ein auf ein Paar bezogenes Konzept.

Der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart mit ihrer Vielfalt an Lebensformen, wie zum Beispiel Patchwork-Familien oder schwul-lesbischen Familien, die Mehrelternschaft leben, wird man damit nicht mehr gerecht. »Gründet« ein Paar, das schon Kinder aus früheren Beziehungen hat, wirklich erst dann eine Familie, wenn es ein gemeinsames Kind bekommt? Mühsam war der Weg zu akzeptieren, dass der Konnex von Ehe und Familie nicht zwingend ist, sondern Familie da ist, wo Kinder sind; das Beharren auf Familiengründung passt dazu nicht. Art. 6 GG sollte daher richtigerweise als Schutz der bestehenden Familie in welchen Kontexten auch immer verstanden werden – und für eine familienfreundliche Gesellschaft kann Deutschland noch viel tun.

Löst man sich vom Kontext eines Paares, könnte das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein aussichtsreicherer Kandidat für ein Recht auf Fortpflanzung sein. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist kein im Grundgesetz explizit benanntes Grundrecht, sondern beruht auf richterlicher Rechtsfortbildung. Verortet wird es in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Im Unterschied zur unbegrenzten Weite der allgemeinen Handlungsfreiheit geht es hier um Tatbestände, die der Sicherung personaler Autonomie dienen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet »Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen«.2 In der Rechtsprechung haben sich verschiedene Teilgehalte dieses Rechts herausgebildet. Dazu gehört etwa die informationelle Selbstbestimmung, der Schutz des Rechts am eigenen Bild und Namen, das Recht der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit sowie der Schutz privater Lebensgestaltung, also eines Bereichs, in dem die Einzelnen unbeobachtet sich selbst überlassen sind oder mit Personen ihres besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren können.

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