Heft 857, Oktober 2020

Über meinen Lehrer Hans Blumenberg

von Heinrich Niehues-Pröbsting

Nachteil des Alters: Man kann nichts mehr werden – Ausnahmen wie der erste Bundeskanzler bestätigen die Regel. Durch Einverständnis lässt sich das Manko ins Gegenteil verkehren (nolentem trahunt, volentem ducunt fata). Vorzug des Alters: Man will nichts mehr werden – außer noch älter; nicht zuletzt davon hängt die Alterszufriedenheit ab. Man steht nicht mehr unter dem Druck, dem die jungen Kollegen, die noch etwas werden wollen, ausgesetzt sind, nämlich anderen etwas beweisen zu müssen; man muss niemandem mehr etwas beweisen als allenfalls sich selbst, nämlich dass – und was – man noch schafft: in körperlicher Hinsicht eine bestimmte Anstrengung wie zum Beispiel vier Kilometer am Stück zu schwimmen, in geistiger, dass man noch ein Buch zustande bringt in der restlichen Zeit. Je weniger einem davon bleibt, je kürzer die Ausblicke nach vorne hin werden, umso mehr schaut man zurück in die immer tiefer werdende Vergangenheit und auf die immer reicheren Erfahrungen, die man gemacht hat. Das nicht nur aus nostalgischen Gründen, sondern auch, um besser zu verstehen, wie man der geworden ist, der man ist. Man beschäftigt sich mit seinen Eltern und Großeltern und wird dabei gewahr, was und wie viel man von ihnen mitbekommen hat. In der Jugend ist man Existenzialist, weil man glaubt, aus nichts heraus sich selbst erschaffen zu können, im Alter wird man Fatalist – was nicht unbedingt mit Resignation einhergehen muss, wohl aber mit der Einsicht, dass man nur zu geringerem Teil aus Ureigenem, zum größeren aber aus Ererbtem gemacht ist. Das gilt wie in biologischer so auch in geistiger Hinsicht. Daher nimmt die Erinnerung an die geistigen Väter und Mütter, die prägenden Erzieher und Lehrer immer mehr Raum ein; mein wichtigster Lehrer war Hans Blumenberg.

Ich lernte ihn kennen, als er seit drei Jahren in Münster lehrte, der letzten und längsten Station seiner akademischen Karriere. Er war ein Repräsentant der alten Ordinarienuniversität und betrachtete die Reformen, denen diese seit den späten sechziger Jahren fortlaufend unterzogen wurde, als verhängnisvoll. Auf die Frage des legendären Fragebogens im FAZ-Magazin, welche Reform er am meisten bewundere, antwortete er 1982: »Die ums Jahr 1995 fällige Wiederherstellung der deutschen Universität.« Darin täuschte er sich gründlich. Statt wiederhergestellt zu werden, wurde die deutsche Universität mit dem Bologna-Prozess, der wenige Jahre nach Blumenbergs Tod – er starb 1996 – einsetzte, radikaler als durch alle Reformen zuvor abgebaut. Gegen jenen Sturm, der die alte Humboldt-Universität hinwegfegte, waren diese bloß ein Windhauch. Mit ihr verschwand auch der Typ des charismatischen Lehrers, bei dem die Wissenschaft, die er vertritt, mit seiner Persönlichkeit eine unauflösliche Einheit eingeht. Zumal in der Philosophie lassen sich die beiden Seiten, die wissenschaftlich-objektive und die persönlich-subjektive, gar nicht voneinander trennen, aber die Verschulung des Philosophiestudiums durch einen festen Lehrplan und damit seine Reduktion auf Philosophiewissenschaft bringen es mit sich, dass die objektive Seite immer mehr dominiert und die subjektive dabei untergeht.

Als ich studierte, war das noch anders. Natürlich musste man sich auch damals einen Grundstock an philosophischem Wissen aneignen; aber das konnte – und kann – man auch aus Büchern, und nicht selten besser als aus langweiligen Vorlesungen. Ebenso relevant – und jedenfalls viel interessanter als das, was man studierte – war: bei wem. Und da hatte ich das Glück, zum richtigen Zeitpunkt auf den besten Lehrer zu treffen, dem ich in meinem nicht gerade kurzen Studium begegnet bin: auf den charismatischen Lehrer Blumenberg, eine Ausnahmeerscheinung im akademischen Lehrbetrieb.

Nietzsche bedauerte, dass er seinen Lehrer Schopenhauer nur im Buch – der Welt als Wille und Vorstellung – kennengelernt habe. Umgekehrt bin ich froh, Blumenberg zuerst in seinen Veranstaltungen begegnet zu sein. Ich glaube nicht, dass ich über seine Bücher denselben Zugang zu ihm gefunden hätte; sie hätten mich eher abgeschreckt, und noch heute habe ich bei der Lektüre nicht selten erhebliche Verständnisschwierigkeiten – obwohl er immer wieder als außerordentlicher Stilist gepriesen wird, zuletzt anlässlich des 2019 aus dem Nachlass herausgegebenen Buchs Die nackte Wahrheit. Mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa wurde ihm diese Qualität von der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung offiziell bestätigt. Seinerzeit war Blumenberg ein Liebling der Feuilletons, vor allem der FAZ und der NZZ. Sibylle Lewitscharoff hat ihn zum Protagonisten ihres preisgekrönten Romans Blumenberg gemacht. In einem ihm gewidmeten Film wird er als »Dichterphilosoph« apostrophiert – ich halte das für abwegig. Wer Blumenberg leicht liest, der verfügt über eine Kompetenz, die die meine weit überragt – oder er liest ihn nicht genau. Er pflegte einen Nominalstil, den er auch an Benn schätzte. Das brachte ihn zu Neologismen, die unter ästhetischem Aspekt nicht immer gelungen sind, so etwa, wenn er aus einem Adjektiv durch Anhängen von »machung« ein Substantiv bildet; »Unvergeßlichmachung« zum Beispiel ist gewiss keine Zierde des deutschen Wortschatzes.

Mehr fällt allerdings ins Gewicht, dass er dem Leser damit das Verständnis oft unnötig erschwert, weil die Beziehungen in einer Serie von Substantiven, die nur durch Genitive oder Präpositionen aufeinander bezogen sind, mühsam rekonstruiert werden müssen oder im Unklaren bleiben; das trifft vor allem dann zu, wenn ein Genitiv an ein zusammengesetztes Nomen angehängt wird und man nicht weiß, ob er sich auf den ersten oder den zweiten Teil des Kompositums bezieht. Da werden Phrasen zu Rätseln: »die Passion ist der Gattungsakt der Erneuerung des Eigentums durch Gehorsam; darin die rechtsverbindliche Verbürgung für den Gehorsam«. Eine sprachliche Unsitte Blumenbergs ist es, dass er Um-zu-Konstruktionen mit wechselnden Subjekten bildete. »Was dadurch an deren [gemeint sind die Archonten in Platons Staat] Stellung in der Polis bestimmt wird, umgeht die Forderung nach den besonderen Eigenschaften, die sie haben müssen, um sie zu Philosophen zu machen.« Das »sie«, das die Archonten vertritt, ist zuerst Subjekt, dann Objekt, umgekehrt sind die »Eigenschaften«, auf die sich der Relativsatz bezieht, darin Objekt und in der Um-zu-Konstruktion Subjekt. Blumenberg schrieb seine Texte nicht, sondern diktierte sie. Wenn er vortrug, konnte er durch Betonung Beziehungen verdeutlichen; dass diese Möglichkeit beim Schreiben entfällt, mochte ihm beim Diktieren bisweilen entgehen.

Ich kam zu Blumenberg, weil ich einen Zweitgutachter für meine Dissertation brauchte; ich hatte ein Studium der Germanistik mit dem Magister abgeschlossen und wollte nun in Philosophie promovieren – ich war also eigentlich kein Student mehr beziehungsweise als solcher in einem hohen Semester. Damals, Anfang der siebziger Jahre, gab es eine Reihe von Schulen in der Philosophie – die Erlanger Schule, die Ritter-Schule, die Heidegger-Schule, die Frankfurter Schule etc. Verbreitet war das Philosophieren in Positionen und von Positionen aus: beispielsweise einer kantianischen, logisch-positivistischen, sprachphilosophischen, einer geschichtsphilosophischen, die sich in eine idealistisch-hegelianische und eine marxistische unterscheiden ließ, wobei es hier wieder orthodoxe Marxisten und Neomarxisten gab. Beliebt war, Positionen gegeneinander auszuspielen oder auch miteinander und mit anderen geisteswissenschaftlichen Methoden zu kombinieren, also zum Beispiel den Marxismus mit der Psychoanalyse, oder soziologische, linguistische, strukturalistische Ansätze in die Philosophie zu integrieren. Habermas machte es vor, und mein Münsteraner Doktorvater, ein Provinz-Habermas gleichsam, es ihm nach.

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