Über meinen Lehrer Hans Blumenberg
von Heinrich Niehues-PröbstingNachteil des Alters: Man kann nichts mehr werden – Ausnahmen wie der erste Bundeskanzler bestätigen die Regel. Durch Einverständnis lässt sich das Manko ins Gegenteil verkehren (nolentem trahunt, volentem ducunt fata). Vorzug des Alters: Man will nichts mehr werden – außer noch älter; nicht zuletzt davon hängt die Alterszufriedenheit ab. Man steht nicht mehr unter dem Druck, dem die jungen Kollegen, die noch etwas werden wollen, ausgesetzt sind, nämlich anderen etwas beweisen zu müssen; man muss niemandem mehr etwas beweisen als allenfalls sich selbst, nämlich dass – und was – man noch schafft: in körperlicher Hinsicht eine bestimmte Anstrengung wie zum Beispiel vier Kilometer am Stück zu schwimmen, in geistiger, dass man noch ein Buch zustande bringt in der restlichen Zeit. Je weniger einem davon bleibt, je kürzer die Ausblicke nach vorne hin werden, umso mehr schaut man zurück in die immer tiefer werdende Vergangenheit und auf die immer reicheren Erfahrungen, die man gemacht hat. Das nicht nur aus nostalgischen Gründen, sondern auch, um besser zu verstehen, wie man der geworden ist, der man ist. Man beschäftigt sich mit seinen Eltern und Großeltern und wird dabei gewahr, was und wie viel man von ihnen mitbekommen hat. In der Jugend ist man Existenzialist, weil man glaubt, aus nichts heraus sich selbst erschaffen zu können, im Alter wird man Fatalist – was nicht unbedingt mit Resignation einhergehen muss, wohl aber mit der Einsicht, dass man nur zu geringerem Teil aus Ureigenem, zum größeren aber aus Ererbtem gemacht ist. Das gilt wie in biologischer so auch in geistiger Hinsicht. Daher nimmt die Erinnerung an die geistigen Väter und Mütter, die prägenden Erzieher und Lehrer immer mehr Raum ein; mein wichtigster Lehrer war Hans Blumenberg.
Ich lernte ihn kennen, als er seit drei Jahren in Münster lehrte, der letzten und längsten Station seiner akademischen Karriere. Er war ein Repräsentant der alten Ordinarienuniversität und betrachtete die Reformen, denen diese seit den späten sechziger Jahren fortlaufend unterzogen wurde, als verhängnisvoll. Auf die Frage des legendären Fragebogens im FAZ-Magazin, welche Reform er am meisten bewundere, antwortete er 1982: »Die ums Jahr 1995 fällige Wiederherstellung der deutschen Universität.« Darin täuschte er sich gründlich. Statt wiederhergestellt zu werden, wurde die deutsche Universität mit dem Bologna-Prozess, der wenige Jahre nach Blumenbergs Tod – er starb 1996 – einsetzte, radikaler als durch alle Reformen zuvor abgebaut. Gegen jenen Sturm, der die alte Humboldt-Universität hinwegfegte, waren diese bloß ein Windhauch. Mit ihr verschwand auch der Typ des charismatischen Lehrers, bei dem die Wissenschaft, die er vertritt, mit seiner Persönlichkeit eine unauflösliche Einheit eingeht. Zumal in der Philosophie lassen sich die beiden Seiten, die wissenschaftlich-objektive und die persönlich-subjektive, gar nicht voneinander trennen, aber die Verschulung des Philosophiestudiums durch einen festen Lehrplan und damit seine Reduktion auf Philosophiewissenschaft bringen es mit sich, dass die objektive Seite immer mehr dominiert und die subjektive dabei untergeht.