Über Mikrochips
von John LanchesterStellen Sie sich folgende vertraute Szene vor Augen: Ein Autor sitzt an seinem Küchentisch, offenbar in Arbeit vertieft. Das Ganze spielt vor vierzig Jahren in Großbritannien. Die Konservativen sind an der Macht, und alles ist marode, aber uns interessieren an dieser Stelle nur die Habseligkeiten des Schriftstellers. Auf dem Tisch steht eine Schreibmaschine, daneben ein Radio, daneben ein Schnurtelefon. Außerdem gibt es noch einen Kühlschrank, einen Ofen, eine Kochplatte, einen Toaster, den Autoschlüssel und einen Staubsauger. Spulen Sie nun vierzig Jahre vor. Die Konservativen sind wieder an der Macht, und wieder ist alles kaputt; das Zimmer wirkt ein wenig besser in Schuss (und der Schriftsteller vielleicht auch), aber die Dinge im Zimmer sind mehr oder weniger dieselben geblieben. Zumindest läuft es auf das Gleiche hinaus, sofern man den Laptop gegen die Schreibmaschine, das Handy gegen das Festnetztelefon und den Dyson gegen den alten Staubsauger tauscht.
Eines aber hat sich grundlegend verändert. Im Jahr 1983 enthielt diese Küche nur eine Handvoll Transistoren, und alle davon befanden sich in dem erwähnten – der Name verrät es – Transistorradio. Im Jahr 2023 stecken hingegen in jedem dieser Haushaltsgegenstände Mikrochips, von denen jeder einzelne wiederum aus Tausenden, Millionen und Milliarden von Transistoren besteht. Backöfen, Kühlschränke, Staubsauger, Autoschlüssel, Radios, Lautsprecher: In allem sind Mikrochips. Ein normales Auto enthält Dutzende von ihnen. Ein schickes Auto kommt auf tausend. Und wir sprechen hier bislang nur von den Standardkonsumgütern. Noch einmal anders verhält es sich mit den Dingen, die für uns die neue Technologie des 21. Jahrhunderts verkörpern: Sie gehören zu den kompliziertesten und schönsten Artefakten, die die Menschheit je geschaffen hat, und zwar vor allem wegen der darin verbauten Chips.
Das Telefon des Verfassers ist ein iPhone 12. Es verwendet einen Chip für das Modem, einen Chip für die Steuerung von Bluetooth, einen Chip für die Bewegungserkennung und Ortung, einen Chip für die Bilderkennung, weitere Chips für das kabellose Aufladen, das Batteriemanagement und die Audio-Funktion. Dazu kommen noch einige Speicherchips. Sie alle hat Apple von anderen Unternehmen zugekauft – und sie alle sind noch sehr simpel im Vergleich mit dem Hauptlogikchip in diesem Telefon, dem von Apple selbst entwickelten A14, der 11 800 000 000 Transistoren enthält. Der Laptop des Autors, ein MacBook Air, verwendet ein anderes »Ein-Chip-System«, den M2 von Apple. Dieser einzelne Chip allein enthält 20 000 000 000 Transistoren. Der Laptop enthält so viele Transistoren, dass der Autor, wenn er in das Jahr 1983 zurückreisen würde, jedem einzelnen Menschen auf dem Planeten ein Transistorradio hätte schenken können und immer noch eine Milliarde Transistoren übrig hätte.
Wenn Sie wissen wollen, wie es dazu gekommen ist, gibt es keine bessere Informationsquelle als Chris Millers umfassendes, augenöffnendes Buch Chip War. Dass wir heute anders arbeiten, leben und denken als vor vierzig Jahren, verdanken wir den grundstürzenden Umbrüchen auf dem Feld der Wirtschaft und der Kommunikation, die wiederum auf der Technologie von Mikrochips basieren. Für die Digitalisierung der Welt waren sie der Dreh- und Angelpunkt. Technikgeschichtlich, so erfährt man bei Miller, begann dieser Prozess allerdings bereits mit der Vakuumröhre, »einem von Glas umschlossenen Metallfaden, einer Glühbirne nicht unähnlich. Durch die Röhre floss elektrischer Strom, der ein- und ausgeschaltet werden konnte, ähnlich wie eine Abakus-Perle, die man auf einem Rechenschieber hin und herbewegt. Eine eingeschaltete Röhre wurde als 1 kodiert, eine ausgeschaltete Vakuumröhre als 0. Diese beiden Ziffern machten jede beliebige Zahl in ihrem binären Zählsystem darstellbar – und damit theoretisch diverse Berechnungsarten möglich.« Vakuumröhren ermöglichten die Umprogrammierung von Systemen. Sie konnten auch immer wieder neu und flexibel eingesetzt werden. Die Röhren bewältigten komplexe Berechnungen, aber sie waren unhandlich, überaus zerbrechlich und aufwändig zu reparieren. Der 1946 eingeführte, weltweit führende Computer der US-Armee ENIAC nutzte 18 000 Vakuumröhren, um die Flugbahnen der Artillerie schneller und genauer zu berechnen als jeder Mensch. Das machte ihn revolutionär, aber sein Nutzen war dadurch begrenzt, dass er einen ganzen Raum ausfüllte und dass jedes Mal, wenn eine einzelne Röhre kaputt ging, die gesamte Maschine ausfiel – was im Schnitt alle zwei Tage geschah.
Die Weiterentwicklung der Vakuumröhre haben wir dem in London geborenen amerikanischen Physiker William Shockley zu verdanken, der nach dem Krieg in den Bell Labs arbeitete, der Forschungsabteilung des riesigen US-Telekommunikationskonzerns AT&T. Shockley erkannte, dass bestimmte chemische Elemente ebenfalls Einsen und Nullen verschlüsseln und übertragen konnten. Leitende Stoffe leiten Elektrizität, nichtleitende Stoffe nicht; Halbleiter sind zu beidem fähig. Die Eigenschaft, zwei verschiedene Zustände annehmen zu können, macht binäre Berechnungen möglich. Shockley arbeitete zunächst die Halbleiter-Theorie aus und beauftragte dann seine Kollegen John Bardeen und Walter Brattain mit der Entwicklung eines Geräts zur Manipulation des elektrischen Stroms auf einem Halbleiter. Am 23. Dezember 1947 stellten sie den ersten funktionierenden Transistor vor. Für diese Erfindung erhielten die drei Männer 1956 den Nobelpreis für Physik.
Shockley scheint darüber verärgert gewesen zu sein, dass es Bardeen und Brattain waren, die diesen ersten Schaltkreis entwickelt hatten. Als Leiter des Labors sorgte er dafür, dass sie nicht weiter an Transistoren forschen konnten. Bardeen ging schließlich an die University of Illinois, wo er grundlegende Arbeiten zur Supraleitung leistete und als erster und bislang einziger Mensch einen zweiten Nobelpreis für Physik erhielt. Shockley hatte sich hingegen in den Kopf gesetzt, mit seiner Entwicklung reich zu werden. Mit dem Nobelpreis in der Tasche verließ er Bell Labs und gründete das Unternehmen Shockley Semiconductor. Und hier kommt seine Mutter ins Spiel. May Bradford Shockley, im Hinterland von Missouri aufgewachsen, stammte aus einer Familie von Bergbauingenieuren; 1904 war sie die einzige weibliche staatliche Vermessungsingenieurin für Mineralvorkommen in den USA geworden. Weil sie Palo Alto liebte – sie hatte in Stanford studiert – setzte sie sich dort zur Ruhe. Diese Tatsache wiederum veranlasste Shockley 1956, sein Unternehmen in Mountain View zu gründen, heute bekannt als Sitz von Google. Damals hieß dieser Teil der Welt noch Santa Clara Valley. May Bradford Shockley, die den letzten Teil ihres Lebens als recht gute Malerin verbrachte und 1977 im Alter von 97 Jahren starb, ist der Grund dafür, dass das Santa Clara Valley heute Silicon Valley heißt.
Es steht außer Zweifel, dass der Gründer des Silicon Valley ein wirklich furchtbarer Mensch gewesen sein muss. Shockley war nicht nur ein miserabler Manager, sondern auch ein leidenschaftlicher Rassist, der die Jahrzehnte nach seinem Nobelpreis damit verbrachte, selbstgebastelte Theorien über »Dysgenie« oder genetischen Niedergang zu verbreiten, darunter auch eine, der zufolge die verschiedenen Hautfarben als eine Form der natürlichen »Farbkodierung« zu verstehen seien, nämlich als Warnsignale vor geringer Intelligenz. Es ist bemerkenswert, dass die offizielle Gedenkschrift der National Academy of Sciences, die von seinem alten Freund John Moll verfasst wurde, kein einziges Beispiel für Freundlichkeit, Charme oder Wohlwollen enthält. Stattdessen stellt Moll fest, dass Shockleys »technischem Verständnis ein ebenso großer Mangel an Verständnis für menschliche Beziehungen gegenüberstand«. Das blieb nicht ohne Folgen.
Die Erfindung von Transistoren, ein cleveres Stück Spitzenphysik, war die eine Sache, sie zur Anwendung zu bringen eine andere. Zwar ersetzten sie schnell die Vakuumröhren, aber Tausende von Transistoren bedeuteten Tausende von Verbindungsdrähten, was dazu führte, dass die damit bestückten Geräte so unhandlich wie unübersichtlich waren. Gelöst wurde das Problem von zwei Männern, die unabhängig voneinander arbeiteten. Der eine war Jack Kilby, ein Ingenieur, der von Texas Instruments angeworben worden war. Das Unternehmen war aus einer Firma für Geräte hervorgegangen, die mittels seismischer Wellen Ölvorkommen aufspüren sollten. Während des Zweiten Weltkriegs verlagerte sich das Geschäft auf die Herstellung von Sonaranlagen für die Marine, nach Kriegsende sollte es auf weitere elektronische Systeme für das Militär ausgeweitet werden. Kilby kam im Sommer 1958 zu TI. Als neuer Angestellter hatte er keinen Urlaubsanspruch. Das Labor aber war gerade erst eingerichtet worden, so dass noch keine konkreten Aufträge abzuarbeiten waren. Um seine Arbeitszeit dennoch sinnvoll einzusetzen, tüftelte Kilby an Transistoren herum, wobei er sich auf das halbleitende Element Germanium konzentrierte. Ihm gelang ein Durchbruch: Anstatt Transistoren miteinander zu verbinden, baute er die Verdrahtung in das Germanium selbst ein. So konnten mehrere Transistoren in ein einziges Stück Halbmetall eingebaut werden – in Germanium oder den anderen nützlichen Halbleiter Silizium. Diese Entdeckung brachte Kilby im Jahr 2000 den Physik-Nobelpreis ein.
Shockleys Transistorenfirma war da längst implodiert. Er hatte die talentiertesten Ingenieure des neuen Fachgebiets eingestellt, sich aber mit allen so zerstritten, dass sie 1957 das Unternehmen verließen und Fairchild Semiconductor gründeten. Diese Männer – die »acht Verräter«, wie Shockley sie nannte – waren die Begründer der modernen Halbleiterindustrie. Fairchild Semiconductor wurde zur Wiege der Mikrochip-Industrie, und die acht Abtrünnigen brachten das Silicon ins Silicon Valley. Einer von ihnen, Eugene Kleiner, gründete später die Risikokapitalfirma Kleiner Perkins, die vielen Unternehmen der Tech-Industrie den Start ermöglichte (unter anderem Amazon, AOL, Electronic Arts, Google und Twitter) und modellbildend für die moderne US-amerikanische Risikokapitalindustrie wurde. Gordon Moore war die treibende Kraft hinter der stetigen Steigerung der Leistungsfähigkeit von Mikrochips (das Mooresche Gesetz wurde nach ihm benannt). Und das visionäre Genie Robert Noyce hatte zeitgleich mit Jack Kilby den Mikrochip erfunden.
Der Chip von Texas Instruments, Kilbys Erfindung, sah aus wie ein Tafelberg, die Formation übereinander gestapelter Felsschichten, wie man sie als Western-Fan aus der amerikanischen Wüste kennt. Die Schichten der Verdrahtung lagen allesamt vertikal übereinander. Noyce erfand eine neue Form des Chips, indem er eine Art Schablone verwendete, die es ermöglichte, durch Löcher in der oberen Schutzschicht hindurch Linien aus Metall zu malen. Mit dieser Technik konnten mehrere Transistoren auf einem einzigen Chip untergebracht werden. Der Vorteil gegenüber der Version von Kilby war, dass es keine freistehenden Drähte gab: Der Chip war völlig in sich geschlossen. »Die Transistoren wurden in einen einzigen Materialblock eingebaut. Bald nannte man die von Kilby und Noyce entwickelten ›integrierten Schaltkreise‹ einfach ›Halbleiter‹ oder, noch einfacher, ›Chips‹.« Die Leute bei Fairchild erkannten sofort, dass ihre Version eine Verbesserung gegenüber der Tafelberg-Variante darstellte: Sie war kleiner, benötigte weniger Strom und konnte potentiell immer weiter verkleinert werden. Diese Chips hatten das Potenzial zu einer radikal neuen Mehrzwecktechnologie. Das einzige Problem: Sie waren fünfzigmal teurer als einfachere Chips. Na und? »Noyce’ Erfindung war clever, ja sogar brillant, da waren sich alle einig. Alles, was fehlte, war ein Markt dafür.«
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