Heft 904, September 2024

»Überlegen, was hilft«

Gespräch über die Lage nach dem 7. Oktober von Navid Kermani, Natan Sznaider

Gespräch über die Lage nach dem 7. Oktober

Kristin Helberg: Ich möchte beginnen mit etwas Persönlichem. Natan Sznaider, wie ist es Ihnen ergangen in diesen Monaten seit dem 7. Oktober? Nicht nur unmittelbar nach dem 7. Oktober als Jude, als Israeli, sondern auch nach sieben Monaten Krieg in Gaza? Was hat sich verändert für Sie im Laufe dieser Monate?

Natan Sznaider: Die Frage, die Sie gestellt haben, wie es mir geht nach dem 7. Oktober, ist eigentlich unbeantwortbar. Sie ist auch unbeantwortbar auf Deutsch. Obwohl ich, wie Sie hören, auch auf Deutsch schreibe und auf Deutsch spreche. Das Innere aber ist nicht auf Deutsch, das Innere ist auf Hebräisch. Das heißt, ich spreche Deutsch und ich denke Hebräisch. Ich schreibe Deutsch und denke Hebräisch. Deshalb kann ich diese Frage nicht wirklich befriedigend beantworten.

Absurderweise kamen die ersten Nachrichten über den Live Feed der Hamas, die ihren Opfern die Telefone abgenommen hatte und dann allen Kontakten im Live Feed übermittelt hat, wie sie Menschen massakrieren und vergewaltigen. Das heißt, ihre Eltern haben das mitbekommen, Freunde und Freundinnen haben das mitbekommen. Meine Tochter hat so was auch gesehen und hat natürlich ganz schnell das Telefon ausgemacht, als sie verstanden hat, was sie da sieht.

Wir haben bis zum Mittag des 7. Oktober alle nicht so ganz verstanden, was eigentlich passiert ist, die ganze Zeit versucht, über soziale Netzwerke und Nachrichten irgendwie die Informationen zusammenzubauen, wie so ein Puzzle. Wir glaubten, das kann ja nicht sein, das ist unmöglich. Dass der westliche Negev erobert worden ist, dass die Armee nicht da war, um einzugreifen, dass diese Menschen hilflos aufs Grausamste massakriert werden. Wir haben das gar nicht einordnen können. Das war ein Ereignis, von dem man nicht wusste, wie man das integriert in das eigene Leben. Das ist bis zum heutigen Tag sehr präsent in Israel, sehr präsent. Ich habe das mal so beschrieben, dass wir am 6. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und am 7. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und eigentlich bis jetzt immer noch nicht am 8. Oktober angekommen sind.

Am Tag darauf war Navid der Erste aus dem Ausland, der angerufen hat und gefragt hat, wie es geht. Und da war natürlich klar, dass dabei eine Affinität von Vätern besteht.

Kristin Helberg: In dem Artikel in der Süddeutschen schrieben Sie: »Am 7. Oktober sahen wir beide die Welt mit den Augen eines Vaters in Tel Aviv.« Was genau meinten Sie damit?

Natan Sznaider: Ich bin Vater einer Tochter, und Navid ist Vater von Töchtern. Wenn man mit so einem Ereignis konfrontiert wird, bei dem die jungen Mädchen und Frauen die ersten Opfer sind, dann empfindet man als Väter. Und das hält bis heute an. Die Familien der Geiseln haben vorgestern aus Verzweiflung einen weiteren Film veröffentlicht, in dem man junge Mädchen sieht, wie sie von der Hamas misshandelt werden. Das sind klare Zeichen von Hilfslosigkeit, Verzweiflung, Bösartigkeit, mit denen man konfrontiert wird. Die rufen auch Emotionen hervor, auf die man nicht stolz ist. Das gehört dazu.

Nun wird viel von Trauma gesprochen. Doch was man verstehen muss, ist, dass wir immer noch im Trauma sind, nicht im Posttraumatischen. Dieses Trauma drückt sich bei mir so aus, dass ich nur eine gewisse Zeit außerhalb von Israel sein kann, dann werde ich wie von einem Magnet zurückgeholt. Ich sitze zwar hier in Hamburg an der Alster, aber mit dem Telefon bin ich natürlich in Israel. Ich stehe morgens auf, und sofort sehe ich die Nachrichten, was dort geschieht. Es ist so, dass ich gar nicht weg kann und gar nicht weg will. Ich befinde mich in einem geschlossenen Universum. Seit dem 7. Oktober bis jetzt, Ende Mai. Es fühlt sich an wie eine Zeit, die festgefroren ist.

Kristin Helberg: Herr Kermani, Sie haben es so beschrieben, als erkennten Sie aus der Ferne den Schrecken. Wie erlebten Sie diese vergangenen Monate seit dem 7. Oktober? Und wie ist es Ihrer Freundschaft ergangen?

Navid Kermani: Unmittelbar nach dem 7. Oktober war das ganz klar und eindeutig. Da war vor dem Nachdenken einfach das Gefühl einer Umarmung. Man kann in so einer Situation nicht viel sagen. Es zählt das Gemeinsame, dass wir beide Väter von ungefähr gleichaltrigen Töchtern sind. Es hätte sein können, dass Natans Tochter bei diesem Rave dabei gewesen wäre, und Freundinnen von ihr waren es. Wenn man selbst eine Tochter hat, die auch da hätte sein können, dann geht das Geschehen einem anders nahe, als wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert.

Es ist im Übrigen nicht so, dass die Welt am 7. Oktober eine andere geworden ist. Unsere Welt ist eine andere geworden. Ich war im Januar im Sudan, um über den Krieg dort zu berichten. Es ist dies der blutigste Krieg unserer Zeit, dazu die schlimmste Hungerkatastrophe weltweit, die sich im Augenblick anbahnt. Acht Millionen Sudanesen waren im vergangenen Jahr auf der Flucht. Das ist, wenn ich jetzt richtig rechne, ein Fünftel oder Sechstel der Bevölkerung. Für diese Sudanesen hat der 7. Oktober überhaupt nichts geändert. Sie wurden vorher ignoriert und sie werden jetzt ignoriert. Nur um das klarzustellen, dass wir hier auf dem Podium und sonst nur über unsere Welt sprechen, die wir als die Welt ausgeben.

Denn ja: Dadurch, dass meine Tochter auf dem Rave hätte sein können, oder Natans Tochter, entsteht etwas Menschliches, dass man anders fühlt, als ich gefühlt habe, bevor ich im Sudan war im Januar. Das ist ja das Beklagenswerte, dass wir erst Mitgefühl empfinden, wenn wir uns selbst in den Opfern wiedererkennen können. Das geht mir nicht anders als den meisten.

Kristin Helberg: Sie waren später erschrocken über die Empathielosigkeit der Israelis für die Zivilbevölkerung in Gaza, als dieser Krieg seinen Lauf nahm, als absehbar war, wie viele zivile Tote dieser Krieg fordern würde. Die Unfähigkeit zur Empathie, ist das vielleicht ein grundsätzliches Problem? Auch in unseren Debatten, in unserer Berichterstattung über diesen Konflikt? Oder gehört es zu jedem Krieg dazu, dass man die andere Seite entmenschlicht? Wie es hier auf beiden Seiten passiert.

Navid Kermani: Das ist ein grundlegender Mechanismus von Kriegen. Es ist der grundlegende Mechanismus von Hass. Und das ist etwas, was nicht erst seit dem 7. Oktober vorhanden war. Ich war das erste Mal 2002 in Israel, und dann war ich das zweite Mal 2005 dort. Schon damals war es für mich absolut erschreckend, was sich auf beiden Seiten allein in diesen drei Jahren für ein Hass gebildet hatte. Der 7. Oktober und auch die Reaktion auf den 7. Oktober haben eine Vorgeschichte in dem, was sich seit längerem an Entmenschlichungen der jeweils anderen Seite aufgebaut hat. Es ist die grundlegende Aufgabe von Leuten wie uns, sich diesem Mechanismus zu widersetzen. Und das haben wir auch versucht in dem gemeinsamen Artikel Ende Februar. Dieser Artikel beschreibt eigentlich genau das: wie wir beide aus diesem Mechanismus aussteigen, der uns in zwei Lager gesteckt hatte.

Denn in den Wochen und Monaten davor hatten wir uns, glaube ich, durchaus entfremdet, Natan und ich. Weil ich merkte, dieses gemeinsame Gefühl unmittelbar nach dem 7. Oktober und dieser Einklang, der verschwand von Telefonat zu Telefonat. Und sie wurden seltener, unsere Gespräche, weil ich eine grundlegende Veränderung spürte. Ich überlegte, schicke ich Natan jetzt noch diesen Link über die Lage der Menschen in Gaza, oder nicht? Ich weiß, er ist genervt. Er will das gar nicht hören. Irgendwann fiel es mir schwer, anzurufen.

Ich war früher in Gaza, ich war in der Westbank. Ich habe viele arabische Freunde, ich habe auch palästinensische Freunde. Für mich wurde es von Tag zu Tag schwerer, mit einem Menschen zu sprechen, der das alles nicht wissen will. Aber irgendwann konnten wir doch wieder telefonieren. Wir kamen uns nicht näher, wenn wir über die Gründe sprachen, also wenn wir versuchten zu erklären, wer hat mehr Schuld oder wer hat angefangen. Sondern ich merkte, dass wenn wir beide darüber nachdenken, was jetzt unmittelbar passieren muss, dass wir uns dann plötzlich wieder einig waren.

Die Frage der Freilassung der Geiseln war der Schlüssel, um wieder ins Gespräch zu kommen. In den Telefonaten, die dann wieder öfter stattfanden, haben wir beide gemerkt: Selbst wenn wir uns nicht verständigen können über die vergangenen fünfzig Jahre, noch über die nächsten fünfzig Jahre – über die nächsten zwei Wochen waren wir uns einig. Wir waren uns einig darüber, was sofort passieren müsste: Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln, um irgendwie aus diesem unmittelbaren Schrecken rauszukommen und überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Von diesem Einverständnis aus, das uns wahrscheinlich beide überraschte, kamen wir zu dem gemeinsamen Artikel in der Süddeutschen Zeitung.

Ich habe es dir übrigens nie zum Vorwurf gemacht, diesen Abbruch oder dieses weniger Telefonieren, dieses keine Nachrichten weiterleiten. Ich habe es nicht weiter versucht, weil ich merkte, es hat keinen Zweck im Augenblick. Es machte mich traurig, aber ich verstand es auch.

Aber auch meine Empathiefähigkeit ist begrenzt. Dass das jetzt seit 231 Tagen so weitergeht und nicht aufhört, dass es von Tag zu Tag schlimmer wird und es nicht möglich ist, das zu beenden, das halte ich nicht aus.

Kristin Helberg: Herr Sznaider, Sie haben beschrieben, in welcher abgekapselten Welt sich die Menschen in Israel zum Teil bis heute befinden, dass der 7. Oktober nicht aufgehört hat. Seit 231 Tagen sind immer noch 128 Geiseln im Gazastreifen. Ist es vielleicht zu viel verlangt, in dieser Situation Mitgefühl für die palästinensischen Opfer zu verlangen? Es wird sehr viel Kritik geäußert an der Regierung Netanjahu. Es wird sehr viel Kritik geäußert, auch an dieser Art der Kriegsführung, daran, dass die Prioritäten falsch gesetzt werden aus Sicht vieler Menschen in Israel, weil der Krieg und der Kampf gegen die Hamas im Vordergrund steht und nicht die Rettung der Geiseln. Aber die Mehrheit der Menschen stehen trotzdem hinter diesem Krieg im Gazastreifen, weil sie ihn als notwendig erachten, um die Hamas als Gefahr zu zerstören. Glauben Sie, dass dieser Krieg Israel sicherer gemacht hat?

Natan Sznaider: Der Krieg war absolut notwendig, das ist überhaupt keine Frage. Israel hat so reagiert, wie jeder andere Staat auch reagiert hätte, wenn so etwas passiert. Die Souveränität wurde verletzt, das Land wurde besetzt, 1200 Leute wurden auf brutalste Weise ermordet. Was hätte Israel machen sollen in dieser Situation? Nicht reagieren? Mitgefühl ist für mich keine politische Kategorie. Ich kann mit dem Wort nichts anfangen. Was heißt das? Empathie? Mitgefühl für die anderen?

Ich sehe die Bilder der Geiseln, die Bilder der jungen Mädchen. Ich denke an meine Tochter. Da ist totale Identifizierung. Für mich sind die, die das angerichtet haben, jenseits jeglicher Emotion. Da ist nicht mal Hass. Da ist gar nichts. Das sind Leute, die außerhalb jeglicher Menschlichkeit in irgendeiner Weise stehen.

Nun kann man sagen, die Hamas hat diese Grausamkeit nicht begangen als Exzess, sondern sie hatten eine Gebrauchsanweisung dabei. Das war so geplant und wurde so ausgeführt, dass es jedem in Israel ihre Absicht absolut deutlich gemacht hat. Und natürlich hatte die Hamas auch die israelische Reaktion mit eingebaut in ihr Kalkül.

Wenn Sie Leute kennen, die im Gazastreifen kämpfen, dann wissen Sie, dass es zwei Gazastreifen gibt. Es gibt das oberirdische Gaza, und es gibt das unterirdische. Die Hamas-Kämpfer befinden sich meistens im unterirdischen, die Bevölkerung im oberirdischen. Und sie ist zum Schutzschild der Hamas geworden.

Jetzt müssen Sie sich vorstellen, wie Menschen mit der Grausamkeit der Hamas konfrontiert worden sind. Ich weiß nicht, ob Sie die Bilder gesehen haben, die vierzig Minuten, die Angehörige der Geiseln gerade veröffentlicht haben. Am Anfang wollte ich das nicht sehen. Dann habe ich mich doch dazu entschlossen, weil ich mich damit konfrontieren wollte. Wenn man das einmal gesehen hat, dann schläft man nicht mehr richtig. Und dann kommen so WhatsApp-Nachrichten und Telefonate wie von Navid. Und darin wird von Empathie gegenüber Gaza und Empathiefähigkeit gesprochen.

Und ich sage, was will der eigentlich von mir? Die sollen uns zufriedenlassen. Irgendwie haben sie doch keine Ahnung. Die haben noch nicht gesehen, was passiert ist. Was für eine unmögliche Forderung es ist, von Menschen wie mir, Empathie für diejenigen zu fordern, die das angerichtet haben. Bin ich Gott, bin ich ein Heiliger, der sich über alle diese Dinge hinwegsetzen kann? Also Empathie nicht, Verantwortung schon.

Kristin Helberg: Aber die Frage stellt sich, kann man dennoch Empathie empfinden mit den Menschen auf der anderen Seite, mit den Zivilisten?

Navid Kermani: Ich möchte gerne zunächst der ersten Aussage Natans widersprechen. Ich glaube, dass Empathie etwas extrem Politisches ist. Ich verstehe, dass es nach dem 7. Oktober vielen Israelis sehr schwer fällt, diese Haltung zurückzugewinnen. Wenn man zu Sicherheit kommen möchte für die Einen, und zu einer Art von Leben – so muss man ja schon sagen, einfach nur Leben – für die Anderen, dann wird Mitgefühl oder ein Verständnis für deren Situation zu einer enorm politischen Kategorie.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors