»Überlegen, was hilft«
Gespräch über die Lage nach dem 7. Oktober von Navid Kermani, Natan SznaiderGespräch über die Lage nach dem 7. Oktober
Kristin Helberg: Ich möchte beginnen mit etwas Persönlichem. Natan Sznaider, wie ist es Ihnen ergangen in diesen Monaten seit dem 7. Oktober? Nicht nur unmittelbar nach dem 7. Oktober als Jude, als Israeli, sondern auch nach sieben Monaten Krieg in Gaza? Was hat sich verändert für Sie im Laufe dieser Monate?1
Natan Sznaider: Die Frage, die Sie gestellt haben, wie es mir geht nach dem 7. Oktober, ist eigentlich unbeantwortbar. Sie ist auch unbeantwortbar auf Deutsch. Obwohl ich, wie Sie hören, auch auf Deutsch schreibe und auf Deutsch spreche. Das Innere aber ist nicht auf Deutsch, das Innere ist auf Hebräisch. Das heißt, ich spreche Deutsch und ich denke Hebräisch. Ich schreibe Deutsch und denke Hebräisch. Deshalb kann ich diese Frage nicht wirklich befriedigend beantworten.
Absurderweise kamen die ersten Nachrichten über den Live Feed der Hamas, die ihren Opfern die Telefone abgenommen hatte und dann allen Kontakten im Live Feed übermittelt hat, wie sie Menschen massakrieren und vergewaltigen. Das heißt, ihre Eltern haben das mitbekommen, Freunde und Freundinnen haben das mitbekommen. Meine Tochter hat so was auch gesehen und hat natürlich ganz schnell das Telefon ausgemacht, als sie verstanden hat, was sie da sieht.
Wir haben bis zum Mittag des 7. Oktober alle nicht so ganz verstanden, was eigentlich passiert ist, die ganze Zeit versucht, über soziale Netzwerke und Nachrichten irgendwie die Informationen zusammenzubauen, wie so ein Puzzle. Wir glaubten, das kann ja nicht sein, das ist unmöglich. Dass der westliche Negev erobert worden ist, dass die Armee nicht da war, um einzugreifen, dass diese Menschen hilflos aufs Grausamste massakriert werden. Wir haben das gar nicht einordnen können. Das war ein Ereignis, von dem man nicht wusste, wie man das integriert in das eigene Leben. Das ist bis zum heutigen Tag sehr präsent in Israel, sehr präsent. Ich habe das mal so beschrieben, dass wir am 6. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und am 7. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und eigentlich bis jetzt immer noch nicht am 8. Oktober angekommen sind.
Am Tag darauf war Navid der Erste aus dem Ausland, der angerufen hat und gefragt hat, wie es geht. Und da war natürlich klar, dass dabei eine Affinität von Vätern besteht.
Kristin Helberg: In dem Artikel in der Süddeutschen schrieben Sie: »Am 7. Oktober sahen wir beide die Welt mit den Augen eines Vaters in Tel Aviv.« Was genau meinten Sie damit?
Natan Sznaider: Ich bin Vater einer Tochter, und Navid ist Vater von Töchtern. Wenn man mit so einem Ereignis konfrontiert wird, bei dem die jungen Mädchen und Frauen die ersten Opfer sind, dann empfindet man als Väter. Und das hält bis heute an. Die Familien der Geiseln haben vorgestern aus Verzweiflung einen weiteren Film veröffentlicht, in dem man junge Mädchen sieht, wie sie von der Hamas misshandelt werden. Das sind klare Zeichen von Hilfslosigkeit, Verzweiflung, Bösartigkeit, mit denen man konfrontiert wird. Die rufen auch Emotionen hervor, auf die man nicht stolz ist. Das gehört dazu.
Nun wird viel von Trauma gesprochen. Doch was man verstehen muss, ist, dass wir immer noch im Trauma sind, nicht im Posttraumatischen. Dieses Trauma drückt sich bei mir so aus, dass ich nur eine gewisse Zeit außerhalb von Israel sein kann, dann werde ich wie von einem Magnet zurückgeholt. Ich sitze zwar hier in Hamburg an der Alster, aber mit dem Telefon bin ich natürlich in Israel. Ich stehe morgens auf, und sofort sehe ich die Nachrichten, was dort geschieht. Es ist so, dass ich gar nicht weg kann und gar nicht weg will. Ich befinde mich in einem geschlossenen Universum. Seit dem 7. Oktober bis jetzt, Ende Mai. Es fühlt sich an wie eine Zeit, die festgefroren ist.
Kristin Helberg: Herr Kermani, Sie haben es so beschrieben, als erkennten Sie aus der Ferne den Schrecken. Wie erlebten Sie diese vergangenen Monate seit dem 7. Oktober? Und wie ist es Ihrer Freundschaft ergangen?
Navid Kermani: Unmittelbar nach dem 7. Oktober war das ganz klar und eindeutig. Da war vor dem Nachdenken einfach das Gefühl einer Umarmung. Man kann in so einer Situation nicht viel sagen. Es zählt das Gemeinsame, dass wir beide Väter von ungefähr gleichaltrigen Töchtern sind. Es hätte sein können, dass Natans Tochter bei diesem Rave dabei gewesen wäre, und Freundinnen von ihr waren es. Wenn man selbst eine Tochter hat, die auch da hätte sein können, dann geht das Geschehen einem anders nahe, als wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert.