Ukraine – Sandspieltherapie, Kultur und Politik
von Jörg RascheOstern 2013
In den letzten Jahren war ich mehrfach in der Ukraine. Mein erster Besuch führte mich Ostern 2013 nach Kiew, wo ich zu einer kindertherapeutischen Fachtagung eingeladen war. Der Aufstand vom Maidan lag damals schon in der Luft, doch noch lag die Stadt friedlich im tiefen Schnee.
Ich wusste nicht viel über Kiew, obwohl ich 1971 einmal ein Semester Slawistik studiert und zusammen mit dem Kommilitonen Karl Schlögel ein Seminar über die Kiewer Rus gehalten hatte – mich aber schließlich entschloss, das Fach zu wechseln und Medizin zu studieren. Kiew war für mich eher ein Traum aus alter Zeit, mit seinen goldenen Kuppeln und der Weite um den Strom Dnjepr. Jetzt wurde die schöne Stadt zu einer bereichernden, aber auch verstörenden Erfahrung.
Durch die Erzählungen der Kolleginnen und Kollegen zogen sich die Spuren einer schier endlos traumatischen Geschichte. Kiew war die Keimzelle der russisch-orthodoxen Kultur, doch schon unter den Zaren wollte es weg von der Zentralmacht, die sich in Moskau etablierte. Als die Bolschewiken 1919 das Zarenreich zerstörten, führten sie lange Eroberungskriege, bis sie sich auch die »weiße« Ukraine unterworfen hatten. Als die ukrainischen Bauern sich später der Enteignung und Kollektivierung der Landwirtschaft nicht beugen wollten, requirierten die Sowjets auf Stalins Anweisung die Lebensmittel, um den Widerstand zu brechen. Das Resultat war der Holodomor 1932/33, eine Hungersnot von unvorstellbarem Ausmaß mit acht bis zehn Millionen Opfern.
Noch heute bestreitet die offizielle russische Politik diesen beispiellosen Völkermord. In den wenigen Jahren bis zum Überfall der Deutschen wurden in den menschenleeren Gebieten insbesondere im Osten der Ukraine Hunderttausende russischstämmige und russischsprachige Menschen angesiedelt. Die Deutschen wurden zunächst als Befreier begrüßt, bis sie ihrerseits mit dem Völkermord begannen und zugleich die gesamte Ukraine zum Schlachtfeld machten. Als sie endlich vertrieben waren, kamen die Stalinisten zurück und setzten ihren Terror fort.
Es gibt wohl keine Familie in der Ukraine, die nicht immer noch tief gezeichnet wäre von all dem Elend des vergangenen Jahrhunderts, das über die Generationen weitergegeben wird, in welcher Form auch immer. Eine Ahnung der seelischen Zerstörung und Fragmentierung vermitteln drei Gedenkstätten auf den Hügeln über dem Dnjepr, der hier so breit ist wie ein riesiger See. Da sind in Blickweite drei Monumente hintereinander. Das erste ist ein schwarzer Obelisk zu Ehren der Roten Armee, die den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen hat, und zu Ehren Stalins. Gleich daneben ein Denkmal und erschütterndes Museum des Holodomor, mit der Skulptur eines verhungernden Engels. Nur einen Hügel weiter liegt das berühmte Höhlenkloster mit seinen prächtigen goldenen Kuppelkirchen. Der Hügel ist durchzogen von ungezählten Gängen, in denen die Mönche des Mittelalters ihre Toten begruben. Als man vor zweihundert Jahren die Gräber öffnete, waren die Leichen nicht verwest, und man schloss daraus, dass es sich um Heilige handeln musste. Inzwischen hat man einige Hunderte Heilige gefunden. Die weißgekalkten engen Gänge mit den Nischen für die Sarkophage sind offen für die Gläubigen, die mit Kerzen in der Hand hindurchschlüpfen, beten, weinen und manchmal laut schreien. Ich hatte den Eindruck, dass dies der einzige Ort war, wo das seelische Elend von Generationen einen lebbaren Ausdruck finden konnte. In den Krypten dieses Klosters lagerte sozusagen das Gedächtnis um die Traumata, das sich wenig später im Aufstand des Maidan Luft verschaffen sollte.
Kiew im März 2017
Julia holt mich diesmal zusammen mit Svetlana vom Flughafen ab. Sie ist Jüdin; ihre Familie ist über die ganze Erde verstreut. Sie wird mir zeigen, wo einmal ihre Großeltern gelebt haben. Sie ist in der Janusz-Korczak-Gesellschaft aktiv, die gerade einige Hefte des Hans Friedmann herausgibt. Der Junge ist 1942 in Theresienstadt ermordet worden, zusammen mit seiner Schwester. Sein Tagebuch ist gefunden worden und wurde der Gesellschaft übergeben.
Die Fahrt vom Flughafen Boryspil geht über eine große Brücke. Der Dnjepr liegt da fast wie ein Meer. Neben uns fährt eine Militärkolonne mit riesigen, lehmverschmierten Rädern. Julia sagt, ihr zehnjähriger Sohn liebe solche Autos. Das Land ist im Krieg. Ich stelle irritiert und beschämt fest, dass man bei uns in Deutschland fast nichts davon hört.
Manche neuen Hochhäuser und Baustellen sehen aus, als wären sie schon jetzt in Zersetzung begriffen, stillgestellt im Prozess der Entstehung, im Wachsen schon überzogen von Rost. Dazwischen steht dann auch mal eine kleine Kirche mit goldener Kuppel, wie ein Blümchen in einem Geröllfeld, so dass man weiß, dass hier Kiew ist, die alte Stadt mit dem Goldenen Tor, das Herz der Ukraine.
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