Heft 879, August 2022

Ukraine – Sandspieltherapie, Kultur und Politik

von Jörg Rasche

Ostern 2013

In den letzten Jahren war ich mehrfach in der Ukraine. Mein erster Besuch führte mich Ostern 2013 nach Kiew, wo ich zu einer kindertherapeutischen Fachtagung eingeladen war. Der Aufstand vom Maidan lag damals schon in der Luft, doch noch lag die Stadt friedlich im tiefen Schnee.

Ich wusste nicht viel über Kiew, obwohl ich 1971 einmal ein Semester Slawistik studiert und zusammen mit dem Kommilitonen Karl Schlögel ein Seminar über die Kiewer Rus gehalten hatte – mich aber schließlich entschloss, das Fach zu wechseln und Medizin zu studieren. Kiew war für mich eher ein Traum aus alter Zeit, mit seinen goldenen Kuppeln und der Weite um den Strom Dnjepr. Jetzt wurde die schöne Stadt zu einer bereichernden, aber auch verstörenden Erfahrung.

Durch die Erzählungen der Kolleginnen und Kollegen zogen sich die Spuren einer schier endlos traumatischen Geschichte. Kiew war die Keimzelle der russisch-orthodoxen Kultur, doch schon unter den Zaren wollte es weg von der Zentralmacht, die sich in Moskau etablierte. Als die Bolschewiken 1919 das Zarenreich zerstörten, führten sie lange Eroberungskriege, bis sie sich auch die »weiße« Ukraine unterworfen hatten. Als die ukrainischen Bauern sich später der Enteignung und Kollektivierung der Landwirtschaft nicht beugen wollten, requirierten die Sowjets auf Stalins Anweisung die Lebensmittel, um den Widerstand zu brechen. Das Resultat war der Holodomor 1932/33, eine Hungersnot von unvorstellbarem Ausmaß mit acht bis zehn Millionen Opfern.

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