Heft 864, Mai 2021

Unter Strom

Ein Stationendrama von Rengenier C. Rittersma

Ein Stationendrama

Tag 1

Für meine Archivreise nach Wolfenbüttel (etwa 500 Kilometer) hatte ich mir ein E-Auto der Firma Regiomobil gemietet, das den Einwohnern des Rhein-Hunsrück-Kreises zur Verfügung steht, um sie mit neuen Mobilitätsformen vertraut zu machen. Ganz unerfahren mit diesem E-Auto war ich übrigens nicht. Mitten im Winter war ich zweimal nach Mainz gefahren und hatte dabei meinen Wortschatz um das Wort »Reichweitenstress« erweitert. Ich hatte erfahren, dass die 148 Kilometer auf dem Display vor mir sehr rasch heruntergehen konnten. Auch ein sparsamer Fahrstil und das Einschalten des Eco-Modus trugen kaum zur Reichweitenverlängerung bei. Von Vorteil war, dass ich die Strecke kannte und somit nicht nur die Talfahrten maximal fürs Wiederaufladen während der Fahrt ausnutzen konnte, sondern auch wusste, wo notfalls Ladestationen zu finden waren. Außerdem gab es am Ziel eine Ladesäule, die damals noch ohne Ladekarte und App benutzt werden konnte. Mit dem Fahren war ich also einigermaßen vertraut, mit dem Laden wesentlich weniger – und das sollte sich rächen.

Es fing schon damit an, dass die erste anvisierte Ladesäule beim Meckenheimer Kreuz, deren Strom mich problemlos bis ins Bergische Land schleusen sollte, sehr weit von der Autobahn entfernt war. Die Säule war weder besetzt noch zugeparkt, der Stecker passte, doch floss trotz perfekter Voraussetzungen bei dieser Junisommerabendbalz kein einziger Tropfen Strom. Hatte ich die Ladekarte nicht gut an das RFID-Symbol gehalten? Spielte die App verrückt? Das Display zeigte jedenfalls nur das Steckersymbol und nicht die restliche Ladezeit. Bei dieser App sieht das Ladeverfahren bestimmt nur ein bisschen anders aus, dachte ich in meiner Postquarantänereiseeuphorie. Da die Säule sich am Rand einer Tankstelle befand, hatte ich reichlich Gelegenheit, die karbonbefeuerte Konkurrenz verachtungsvoll zu betrachten. Nach einer Stunde wurde mir dann doch mulmig. Und schon fummelte ich mit App und Ladekarte an der Säule herum und bemerkte, dass das Laden beendet worden war. Ich will den Stecker herausziehen und stelle fest, dass er verriegelt ist und sich nicht lösen lässt. Der echte Pionier lässt sich so schnell nicht entmutigen, er greift zum Handy und ruft beim Kundendienst der Firma Regiomobil an. Et voilà: Aus dem mehr als 200 Kilometer entfernten Jesberg wird mein Ladekabel entriegelt.

Über die A3 dackele ich Richtung A1, das Ladeziel Wuppertal-Kucksiepen fest im Blick. Aber kaum bin ich im Bergischen Land, sehe ich die Reichweite im Zehnsekundentakt wegschmelzen. Zwar holt das Auto bei den Talfahrten wieder auf, aber dies gleicht den Verlust bei Weitem nicht aus. Reichweite und Zieldistanz spielen jetzt Katz und Maus auf dem Display, das wird zu knapp – eine Ladestation muss her! Diesmal finde ich eine unweit der Autobahn, bei einem BMW-Autohaus. Eine Säule ist noch verfügbar, es ist 20:56:47 Uhr, als ich mithilfe meiner ADAC-Ladekarte erstmals erfolgreich das Laden starte. Kurz vor 23 Uhr sind Kraftfahrzeug und Kraftfahrer um 6,3 KWh reicher bzw. 1,83 Euro ärmer. Wiederum Entkopplung des Steckers via Jesberg, also weiter nach Wuppertal-Kucksiepen. Drei kräftige 43-KWh-Säulen gibt es da, sagt die App. Erstmals reicht der Saft für die Strecke, und nach etwa zwanzig Minuten treffe ich ein. Inzwischen ist es wirklich dunkel, ich fahre langsam und aufmerksam auf die Raststätte. Nirgendwo eine Säule zu sehen. Kein Wunder, denn jeder leere Fleck ist von einem LKW besetzt. Kurz vor der Auffahrt zur Autobahn geisterfahre ich dann in Rückwärtsgang nochmals ganz langsam den zweiten rechten Streifen ab und entdecke, hinter einem LKW versteckt, eine Säule. Da das Auto an der Haube geladen wird, muss ich es in die winzige Lücke manövrieren. Löst der Fahrer am nächsten Morgen unbedacht die Handbremse, werde ich von einer LKW-Nase wachgeküsst werden, denke ich beim Zähneputzen, dem letzten Akt des Tages.

Tag 2

Kurz vor halb fünf höre ich, wie der LKW-Motor neben mir eingeschaltet wird; ich reibe mir die Augen, recke mich kurz und springe aus dem provisorischen Schlafabteil meines Kangoo. Der LKW-Fahrer und ich wünschen einander einen guten Morgen und haben einen kurzen Plausch. Er habe sich bemüht, die Lücke zugänglich zu halten. Ich meinerseits möchte wissen, ob er es schaffe, so rauszufahren. Oh ja, kein Problem. Gegenseitiges Verständnis zwischen zweien, die sich nie zuvor begegnet sind und sich nie wiedersehen werden. Jetzt will er wissen, »wie das so ist mittem E-Auto«. Er komme viel herum und stelle immer wieder fest, dass die Ladestationen meistens ganz blöd platziert seien, nämlich genau dort, wo die LKWs abends halten müssen. LKW-Fahrer stünden abends unter großem Stress, weil ihnen die Zeit davonlaufe, da bliebe manchmal nichts anderes übrig, als die letzte Lücke zuzuparken. Ich wasche mir den Kopf und die Zähne mit dem letzten Schluck Wasser, den ich dafür aufbewahrt habe. Höchste Zeit, die Kutsche zu lüften und weiterzufahren. Ein Anruf um 4:37 Uhr ins Chipsteuerungs-Jenseits von Jesberg genügt, und schon sind Säule und Kabel wieder getrennt.

Die neue Reichweite auf dem Display kommt mir schier unendlich vor. Das Navi im Auto jedoch warnt, dass die frisch getankten KWh nicht bis zum Vormittagsziel Bückeburg reichen. Da man aus Fehlern lernt, recherchiere ich jetzt schon Ladestationen an meiner Strecke. Der Weg führt über den Teutoburger Wald und die Porta Westfalica ins anmutige Weserbergland. Ich lasse Armin, den Cherusker, und das Kaiser-Wilhelm-Denkmal lieber links liegen. Dann Detmold, das Demokraten wie Frank-Walter Steinmeier und Andreas Vosskuhle, deren Macht auf Argumentation anstatt auf Agitation basiert, hervorgebracht hat. So sinnierend bemerke ich gegen 7:20 Uhr in der Umgebung von Bückeburg, dass mein Stromvorrat sich dem Ende zuneigt.

Erleichtert fahre ich bald darauf also jene Ladestation an, die ich bereits gestern Abend hätte erreichen wollen. Da es sich um eine öffentlich zugängliche Säule auf dem Parkplatz einer Firma handelt, frage ich kurz, ob ich das Auto hier für den Tag anschließen darf. Fürs Archiv ist es noch zu früh, fürs Freibad ist es zu spät, da ich sowieso noch dringend frühstücken muss. Zwischendurch tätige ich noch einige Telefonate mit Regiomobil in Jesberg, nicht aus Liebe, sondern aus purer Not, und mir wird jedes Mal wieder kompetent in den Sattel geholfen. Erst im Lauf des Tages lerne ich, wie sich das Kabel problemlos ver- und entriegeln lässt, was für ein Fortschritt für einen technikscheuen Frühneuzeithistoriker.

Endlich wieder Koffein, und keine Viertelstunde später sitze ich zusammengefaltet auf dem Klapprädchen, das ich im Auto mitführe, auf dem Weg ins Archiv. Das Staatsarchiv befindet sich im Schloss. Wahrlich, denke ich, diese Kulisse kann wetteifern mit anderen geschichtsträchtigen Standorten, an denen ich geforscht habe, mit Wolfenbüttel, der Vatikanbibliothek und der von Herzogin Anna Amalia oder dem Staatsarchiv von Turin im Stadtpalast der Fürsten von Savoyen. Am Thema hat sich nichts geändert: Noch immer buddele ich nach Unterlagen, die etwas über die Kulturgeschichte der Trüffel und vor allem etwas über das Trüffelfieber verraten, das seit 1700 an europäischen Höfen grassierte. Die Acta vor mir aus dem Jahr 1782/83 berichtet über »Jagd-Sachen in der Grafschaft Schaumburg, in specie das Trüffeln Suchen betreffend«. Folioseite 1, betitelt »Designatio actorum«, vermittelt in feiner Handschrift einen ersten Eindruck des Inhalts der Akte. Was für ein Verwaltungsniveau, denke ich immer wieder, wenn mir solche Akten unter die Augen kommen: alles handgeschrieben, noch das banalste Thema penibel zerlegt und dank eines archivalischen Erfassungssystems leicht auffindbar für zukünftigen Gebrauch. Ich überfliege den Rest der Akte und fotografiere sie. Einstweilen scheint sie meine These zu bestätigen, derzufolge in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die kleineren Fürstenhöfe in den Bann des Trüffelfiebers gerieten.

Um 10:15 Uhr verlasse ich das Archiv, durchquere die Hofstadt nochmals und radele zurück. So schön und harmonisch die Innenstadt, so abstoßend der Gewerbepark, wo das Auto steht. Zurück beim Auto überfällt mich in Anbetracht der nur mäßig gewachsenen Reichweite der Zweifel, ob ich nicht doch noch ins Freibad gehen sollte. Lust hätte ich, aber mein Lustunterdrückungsreflex ist dank einer calvinistischen Frühsozialisation durchtrainiert, und so beschließe ich, mich wieder auf den Weg zu machen und unterwegs eine Ladestation anzuzapfen. Kurz nach elf hängt der Säugling an der A2-Raststätte Auetal schon wieder an der Säule. Ich esse und mache danach ein Nickerchen: Eine Viertelstunde reicht aus, um meine innere Batterie voll und ganz aufzuladen.

Aufgemuntert fahre ich kurz vor eins wieder weiter; es ist eine Prachtstrecke, die mich durch das Weserbergland und Calenberger Land führt. Und überall vielversprechende Ortsnamen, die ich nur allzu gut aus meinen Akten kenne. Weit und breit jedoch keine Säule zu sehen; zwar hatten mich sämtliche Hilfsmittel (Apps, Websites und Navi) bereits vor dieser Karbonwüste im Calenberger Land gewarnt. Allerdings hatte ich schon die Erfahrung gemacht, dass die systematische Aufzeichnung der tatsächlich vorhandenen Ladeinfrastruktur hinterherhinkt. Beim Archiv angekommen, frage ich deshalb einen Archivmitarbeiter, ob es denn stimme, dass die Lademöglichkeiten hier wirklich so mies seien. Er stimmt sogleich einen Klagegesang an. Dass er jetzt, da das Archiv zeitweilig hier angesiedelt ist, gezwungen sei, sein Hybridfahrzeug zu nehmen, weil er sonst nicht mehr nach Hause kommen würde. Dass es in Hannover-Stadt und Umgebung aber nicht wesentlich besser sei, weil dort zwar genügend Ladekapazität vorhanden sei, aber an den Säulen reine Abzocke herrsche.