Urteile ohne Regel, Regel ohne Prinzip
Worüber in der Migrationspolitik (auch) zu diskutieren wäre von Andreas FunkeOb es nun um Zurückweisungen an der deutschen Staatsgrenze, um »Pushbacks« an der europäischen Außengrenze, um Überstellungen innerhalb des europäischen Dublin-Systems oder um Abschiebungen in einen Drittstaat außerhalb der Europäischen Union geht: Die gegenwärtige Diskussion des Flüchtlingsrechts kreist um den Stellenwert eines individuellen Rechts auf Asyl. Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, hat jüngst vorgeschlagen, es abzuschaffen. Stattdessen sollen Kontingente von schutzbedürftigen Flüchtlingen festgelegt werden. Vor längerer Zeit schon hatte sich, mit gleicher Stoßrichtung, der CDU-Politiker Thorsten Frei dafür ausgesprochen, das Recht auf Asyl durch eine bloße institutionelle Garantie zu ersetzen. Unterstützung für diese Vorschläge kommt vom Konstanzer Migrationsrechtler Daniel Thym, unter anderem in seinem Buch Migration steuern von 2025.
Migrationsforscher sahen sich nun kürzlich veranlasst, im Spiegel den Status quo zu verteidigen. Sie beklagen, dass zunehmend offener die Abschaffung des Asylrechts diskutiert werde. Darin sehen sie eine Gefährdung der Menschenrechte. Ihnen folgten einige Tage später Sozialwissenschaftler in der taz. Die Debatte personalisierend und zuspitzend, werfen sie insbesondere Thym vor, seine Position laufe auf eine Entrechtung von Migrierenden, auf eine selektive Geltung von Menschenrechten sowie auf eine Migrationspolitik hinaus, die über Leichen gehe.
Der Ausdruck »individuelles Recht auf Asyl« ist doppeldeutig. Man kann darunter eine Rechtsposition verstehen, die politisch Verfolgte in den Stand setzen würde, von einem bestimmten Staat oder der Staatengemeinschaft Aufenthalt zu beanspruchen, um Schutz vor Verfolgung zu finden. Eine solche starke Rechtsposition enthält das Völkerrecht nicht. Vielmehr greift ein ziemlich roher Mechanismus: Die Lage des Körpers ist alles. Wer sich räumlich an die Grenze, am besten hinter die Grenze eines Staates begibt, der Mitgliedstaat der Genfer Flüchtlingskonvention ist, und dort auf irgendeine Weise um Asyl nachsucht, erhält Schutz, sofern »sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht« sind. Dies ist der Grundsatz des »non-refoulement«, der Nichtzurückweisung (Art. 33 Abs. 1).
Wenn also von einem »Recht auf Asyl« gesprochen wird, dann kann dies nur ein – schwaches – Recht darauf sein, aus den genannten Gründen nicht zurückgewiesen zu werden. Dieses Recht bildet den Kern des internationalen Flüchtlingsschutzes. Nicht anders funktioniert das Grundrecht auf Asyl, das Artikel 16a des Grundgesetzes enthält. Es ist gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention aber nahezu bedeutungslos. Vor über dreißig Jahren wurden Einschränkungen dieses Grundrechts beschlossen, die in der Praxis umfassend greifen. Vor allem kann sich nämlich darauf berufen, wer über einen sicheren Drittstaat einreist – und dies tun die meisten Schutzsuchenden, die Deutschland erreichen.
Hinter dem Non-Refoulement-Grundsatz der Genfer Flüchtlingskonvention steht insbesondere das Anliegen, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa für die sogenannten displaced persons ein Minimum an Schutz zu begründen. Die Verpflichtungen der Staaten aus der Genfer Konvention waren lange Zeit auf genau diese Verfolgungslagen bezogen. Erst im Jahr 1967 wurde in New York in einem Zusatzprotokoll zur Konvention vereinbart, den historischen Bezug aufzugeben. Die Konvention selbst blieb unverändert.
Es ist wichtig zu sehen, dass dem Grundsatz des Non-Refoulement verschiedene Abwägungen zugrunde liegen. So erkennt die Konvention überhaupt nur Verfolgung als Auslöser des Schutzes an, und diese Verfolgung muss auf bestimmten Motiven beruhen. Anfangs herrschte sogar noch die Vorstellung, bei politischer Verfolgung ginge es vor allem darum, bestimmte ideologische Hintergründe anzuerkennen beziehungsweise gerade nicht anzuerkennen – etwa Schutz vor kommunistischer Verfolgung –, aber dies spielte bald keine Rolle mehr.
Auch bei der Diskussion des Asyl-Artikels des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat waren solche Vorstellungen präsent. Eine Abwägung liegt dem Grundsatz des Non-Refoulement aber auch insofern zugrunde, als diesen Schutz nicht genießen kann, wer eine Gefahr für die Sicherheit des potenziellen Gaststaats darstellt, etwa indem er oder sie schwere Straftaten begangen hat (Art. 33 Abs. 2). Hier wird besonders deutlich, dass die Genfer Flüchtlingskonvention immer auch den Schutz der Souveränität asylgewährender Staaten vor Augen hat. Doch lässt sich durchaus sagen, dass dieser Schutz recht schwach ausgeprägt ist, weil die Staaten offenbar auf die Möglichkeit verzichtet haben, die Gewährung des Non-Refoulement jenseits der erwähnten Klausel zum Gegenstand einer politischen Steuerung zu machen.
Dies wird aber verständlich, wenn man sich die historische Situation sowohl des Jahres 1951 als auch 1967 – als das New Yorker Protokoll verabschiedet wurde – vor Augen führt. 1951 ging es »nur« um die Folgen des Zweiten Weltkriegs, also um ein an sich abgeschlossenes Geschehen, bei dem jeder Staat kalkulieren konnte, was auf ihn zukommen würde. Die Konvention war rechtliche Vergangenheitsbewältigung. Und auch 1967 konnten die Staaten davon ausgehen, überschaubare Verpflichtungen zu übernehmen. Erstaunlicherweise wurde das Zusatzprotokoll in den Vereinten Nationen kaum diskutiert. Zwar gab es weltweit eine Reihe von Flüchtlingsbewegungen. Nur scheuten die maßgeblichen Akteure eine Grundsatzdebatte, zu der es in der Generalversammlung gekommen wäre, hätte die Konvention selbst auf dem Prüfstand gestanden. Ein gewisser Handlungsdruck entstand dadurch, dass afrikanische und asiatische Staaten eigene, regionale Abkommen zur Gewährung von Asyl ankündigten. Eine Zersplitterung des Flüchtlingsrechts drohte. Die westlichen Staaten, die das Protokoll letztlich unterzeichneten, waren zu jenem Zeitpunkt mit Fluchtbewegungen nicht konfrontiert. In den 1970er Jahren versuchte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), eine echte Asylkonvention auf den Weg zu bringen, aber dies scheiterte.