(V)Erträumte Rechtssubjekte
von Jann MaatzApollon und Dionysos
Die Diskussion über ökologische und elektronische Personen als Rechtssubjekte floriert, wie anhand der zahllosen Monografien hierzu und kritischer Erwiderungen zu erkennen ist,1 und steckt doch fest.2 Kann eine nichtmenschliche Entität eine Person sein, obwohl der Mensch doch schon eine Person ist? Anthropomorphisieren wir Flüsse, Flora und Fauna, Maschinen und Dinge oder entmenschlichen wir uns selbst, wenn wir jenen Entitäten rechtliche Personalität zuschreiben?3 Diese »Anthropomorphisierungsdebatte« ist nicht neu und fand mit umgekehrten Vorzeichen schon im theologischen Kontext statt. Ist Gott eine Person oder besser drei Personen als Vater, Sohn und Heiliger Geist, wenngleich wir Menschen doch Personen sind? Anthropomorphisieren wir damit nicht Gott, wenn der Mensch aber nur nach seinem Ebenbild geschaffen wurde, der Mensch also nicht Gott und Gott nicht Mensch ist? »Denn er [Gott] ist nicht ein Mensch wie ich, dem ich antworten könnte, daß wir miteinander vor Gericht gingen.« (Hiob 9, 32)
Anstatt immer wieder die gleiche Frage zu stellen, wer alles eine Person sein kann, sollten das Problem und die Frage reformuliert werden. Zu beantworten wäre dann, wer alles innerhalb des Rechts als gesellschaftlichem System eine Person haben kann?4 In anderen Worten: »Unter welchen Bedingungen konstruiert ein Sozialsystem, also ein geschlossenes und autonomes Ensemble rekursiver Kommunikationen, das sich in der Umwelt der betroffenen Einheit befindet, das semantische Artefakt eines ›Akteurs‹?«5 Doch um diese Reformulierung und den damit verbundenen Perspektivwechsel nachzuvollziehen, müssen wir uns in einem ersten Schritt aus dem System »Recht« entfernen, um uns ihm im Anschluss an die Analyse wieder zu nähern. Ein Problem des Rechts kann nicht auf dem Boden des Rechts erkannt werden.
Im fünften Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches I schreibt Nietzsche: »Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden.« Metaphysik ist mit Nietzsche Beobachtung, ist Deutung einer anderen Welt, mit dem für Träume eigentümlichen Abstand. Eine Welt, die nicht exakt die ist, in der sich der materielle Körper des träumenden Menschen befindet, und dennoch real erfahrbar, eine »zweite reale Welt«. In ihr verarbeitet der Träumer, erkennt Muster und Wege seines Lebens. Im Traum sieht man zu, um sich aus dem Gesehenen das Leben zu deuten.
Die Traumwelt ist »Kunstwelt«, die sich von der Lebenswelt mit ihren zum Teil unverständlichen Ereignisfolgen, merkwürdigen Handlungszusammenhängen und überfordernden Verantwortungszumutungen unterscheidet. Das Leben wird oftmals erst verständlich, wenn man von Zeit zu Zeit aus ihm verrückt und »anderswo« ist. Unser Traum ist dieses ursprüngliche »Anderswo«: »das Vorbild der plastischen Kraft: ausdrücklich werdendes Sein jenseits des Seins im Werden, wie es gelebt werden muß«.6
Der Reiz dieses Anderswoseins liegt darin, dieser Welt nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern sie selbst (mit)gestalten zu können, weil man sich des Träumens bewusst ist. Und braucht man nicht zwingend eine zweite reale Welt, so doch aber die eigene Welt in anderer Hinsicht, von einem anderen Standpunkt aus, damit das Leben verständlich, deutbar, erkennbar ist. Die Schönheit der Natur erkennt man oftmals erst auf einem Gemälde, den Sinn der Verworrenheit menschlicher Lebenswege durch das Lesen von Hermann Hesse und den fürchterlichen Eindruck der Justiz und hierarchischer Strukturen auf ihr ausgelieferte Individuen durch Franz Kafkas Romane. Hier ähneln sich Traum und Kunst.
Die Künstlerin, ob malend, schreibend oder komponierend, geht auf Abstand von der Welt und doch nicht auf unerreichbare Distanz einer alles überblickenden Beobachterin, ist doch der Schaffungsprozess selbst bedingt durch die Situation der Welt, von der sie sich zu entfernen sucht. Traum und Kunst sind »vermittelte Unmittelbarkeit«, sie brauchen das Leben als Fundament, von dem aus sie abheben können. Anhand des Metaversums, des Web 3 und Web 4.0 lässt sich gerade das Erschaffen neuer, anderer Welten, weiterer Realitäten miterleben. Wir erhalten Zugang zu einem Multiversum, zu zahllosen Parallelwelten und -realitäten, die es zu erfahren, deuten und beobachten gilt. Das Betreten anderer Welten und Realitäten kann als Chance begriffen werden, Muster, Funktionen und Fehlfunktionen zu erkennen, zu deuten, um sie in der anderen, in der »eigenen Welt« besser zu verstehen, oder sogar zum Besseren zu ändern.
»Rechtswelt« als »Kunstwelt«
Dass es sich bei der »Rechtswelt« oder eher »Rechtswelten« ebenso um künstlich geschaffene Alternativrealitäten handelt, die nicht bloß die »Realität des Lebens« widerspiegeln, wobei die eigene Realität nicht als ontologische unveränderliche Tatsache zu verstehen ist, sondern vielmehr als Produkt der Konstruktion eines Beobachters selbst (Dürrenmatt), soll hier anhand von zwei Beispielsfällen illustriert werden.
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