Heft 900, Mai 2024

Verfassung in der Zeit

Zur Temporalität des Grundgesetzes von Marcus Payk

Zur Temporalität des Grundgesetzes

I. Definitivum

Die vielleicht wichtigste temporale Dimension des Grundgesetzes war ihm qua Entstehung eingeschrieben: Es sollte nur ein Provisorium sein, eine vorläufige Ordnung für das Zwischenspiel eines westdeutschen Staates, der mit der Einigung der vier Siegermächte und dem Abschluss eines Friedensvertrags für Gesamtdeutschland sein organisches Ende finden würde. Einzig in diesem Vorstellungshorizont und mit dieser Begründungslogik hatten sich die westdeutschen Ministerpräsidenten im Sommer 1948 zögerlich dazu bereit erklärt, auf die von den westalliierten Siegermächten immer vernehmlicher geforderte Übernahme der politischen Verantwortung einzugehen.

Trotzdem knüpften sie ihre Zustimmung an den Vorbehalt, dass keine verfassungsgebende Versammlung zusammentreten und auch keine Verfassung entstehen dürfe, sondern lediglich ein von den Landtagen gewählter Parlamentarischer Rat, der ein Grundgesetz für die temporäre Reorganisation deutscher Staatlichkeit entwerfen würde. Darin lag einerseits Sorge um die Integrität des Nationalstaats. Weder sollte die Bevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone ausgeschlossen noch künftige Territorialregelungen präjudiziert werden; auch politische Bedenken der Ministerpräsidenten, in eine Rolle als »Spalter« geschoben zu werden, spielten eine Rolle.

Nicht weniger wichtig, vielleicht sogar wichtiger, war andererseits jedoch der Unwille, an einer Verfassungsgebung unter Kontrolle der Besatzungsmächte mitzuwirken. Vor allem die in den Frankfurter Dokumenten ungeschickt angedeutete Verknüpfung zwischen einer von deutscher Seite zu entwerfenden Verfassung und einem von alliierter Seite aufzustellenden Besatzungsstatut stieß auf Kritik. »Solange wir in unserer Willensbildung nicht frei sind, kann man von einer Verfassung nicht reden«, meinte etwa der niedersächsische Landeschef Hinrich Kopf bei einem Treffen auf dem Rittersturz oberhalb von Koblenz, und auch andere Stimmen insistierten auf einer unumschränkten Freiheit der Selbstbestimmung als Voraussetzung einer Verfassungsgebung.

Dieser staatsrechtliche Purismus war kaum durchzuhalten. Schon auf dem im August 1948 stattfindenden Verfassungskonvent von Herrenchiemsee bestand Konsens, dass die Chance ergriffen und eine Vollverfassung erarbeitet werden solle, selbst wenn es noch Beschränkungen durch die Besatzungslage gebe und sich eine souveräne Handlungsfreiheit nur schrittweise zurückgewinnen lasse. Das Provisorische lag demnach weniger in den Regelungen des Grundgesetzes »als in deren innere[r] Begrenzung auf die durch den äußeren Zwang heute noch eingeschränkten Möglichkeiten«. Gedacht wurde auch hier nicht allein an die fehlende Einbeziehung der Sowjetischen Besatzungszone oder der Gebiete unter polnischer Verwaltung, sondern ebenso und vorrangig an den Fortbestand alliierter Rechte etwa in der Außenpolitik oder in Wirtschaftsfragen. In welchem zeitlichen Horizont diese Beschränkungen entfallen würden, ließ sich auch auf Herrenchiemsee nur spekulativ beantworten, was den einflussreichen SPD-Politiker Carlo Schmid nicht daran hinderte, für die vorläufige Verfassung ein konkretes Verfallsdatum zu fordern; aus seinem Vorschlag eines automatischen Ablaufs zu einem vorab definierten Zeitpunkt erwuchs schließlich eine Vorform des Art. 146 GG.

Dem politischen Geschehen ließen sich trotzdem keine Fristen setzen. Am 1. September 1948 trat in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, der auf den Vorarbeiten von Herrenchiemsee aufbaute und bis zum Mai des kommenden Jahres das Grundgesetz ausarbeitete. Auch hier waren sich die Delegierten rasch einig, das Provisorische zwar in der Präambel anzudeuten, ansonsten aber eine vollständige staatliche Ordnung zu entwerfen, deren Geltungsanspruch prinzipiell weder zeitlich noch konditional beschränkt war. Verschiedene Überlegungen, die Vorläufigkeit des westdeutschen Gebildes dadurch zu betonen, dass etwa das Amt des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt aus symbolischen Gründen vakant bleiben solle, konnten sich nicht durchsetzen. Auch der Hinweis auf eine »Besetzung Deutschlands durch fremde Mächte« und die dadurch bedingte eigene Unfreiheit wurde aus frühen Entwürfen der Präambel gestrichen, die am Ende nur undeutlich von einer »Übergangszeit« sprach und davon, dass man auch für jene Deutschen gehandelt habe »denen mitzuwirken versagt war«. Der Vorbehalt des Vorläufigen unterlag insofern von Beginn an einem inneren Widerspruch. Während das Grundgesetz nach außen hin demonstrativ nur ein Provisorium sein sollte, zielten die inhaltlichen Bestimmungen – darunter nicht zuletzt die später als »Ewigkeitsklausel« apostrophierte Beschränkung der Verfassungsänderung in Art. 79 Abs. 3 GG – unverkennbar auf den Anspruch, den neubegründeten Staat möglichst umfassend auszustatten, in die Rechtsnachfolge des Reiches zu stellen und damit Deutschland als Bundesrepublik neu zu konstituieren.

Und so kam es auch. Während die DDR, die im Oktober 1949 ins Leben trat, programmatisch auf Diskontinuität setzte, verstand sich die Bundesrepublik von Beginn an als einzige legitime Form deutscher Staatlichkeit. Der damit verbundene Souveränitätsanspruch ließ sich mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen, der Wiederbewaffnung oder der Ablösung des Besatzungsstatuts im Rahmen von Generalvertrag (1952) und Pariser Verträgen (1955) innerhalb weniger Jahre in der gewünschten Weise ausbauen; auch mit der Änderung des Grundgesetzes im Zuge der umstrittenen Notstandsgesetzgebung 1968 wurden alliierte Vorbehaltsrechte in die eigene Verantwortung zurückgeholt. Als unlösbares Problem blieb hingegen die Frage der deutschen Teilung bestehen. Zunehmend stellte es sich als mühevoll dar, den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik in einer sich wandelnden Welt aufrechtzuerhalten. Zum Ende der 1960er Jahre ging bereits eine Mehrheit der westdeutschen Gesellschaft davon aus, dass eine Wiedervereinigung so rasch nicht zu erwarten sei und ein auf längere Sicht angelegtes Arrangement mit dem zweiten deutschen Staat gefunden werden müsse, wie es die sozialliberale Koalition im Rahmen ihrer Ostpolitik wenig später umzusetzen versprach.

Jede Aufnahme förmlicher Beziehungen zur DDR bedeutete aber eine Absage an die grundgesetzliche Behauptung einer nur provisorischen Ordnung und drohte darum, bereits verfassungsrechtlich zu scheitern. Die Bayerische Staatsregierung rechnete sich gute Chancen aus, als sie den von der Regierung Brandt mit der DDR ausgehandelten Grundlagenvertrag im Frühsommer 1973 im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht angriff. Doch den Karlsruher Richtern gelang ein kunstvolles Urteil, in dem Vergangenheit und Zukunft Deutschlands so geschickt austariert wurden, dass davon keine Störung der Gegenwart ausging. Einerseits wurde die bayerische Klage abgewiesen und die politische Handlungsfreiheit der Bundesregierung bekräftigt; eine »faktische Anerkennung« der DDR müsse von ihrer völkerrechtlichen Anerkennung unterschieden werden und das Ziel einer gesamtdeutschen Zukunft bleibe auch nach dem Grundlagenvertrag weiterhin möglich. Andererseits bekräftigte das Gericht die Verpflichtung aller Organe der Bundesrepublik, dem Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes unbeirrt zu folgen und den gesamtdeutschen Anspruch »im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten«.

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