Heft 857, Oktober 2020

Verlegt, verwahrt und vergessenDie Bücher aus den ehemaligen deutschen Bibliotheken in Polen

von Vanessa de Senarclens

Man kennt den Ausdruck »displaced person«, im folgenden Artikel geht es um »displaced books«: Millionen von Büchern, die mit der Verlegung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße 1945 aus privaten, kirchlichen und öffentlichen Sammlungen aus Hinterpommern, Schlesien und Ostpreußen in einen neuen nationalen Kontext gelangten. Aus polnischer Perspektive wurden diese »zurückgelassenen« Bücher aus deutschen Bibliotheken als Staatseigentum betrachtet und als solches vor weiteren Plünderungen, Verwüstungen und Zerstörungen geschützt. Während man in polnischen Publikationen bis heute von den »sichergestellten Büchersammlungen« spricht, fallen in Deutschland dieselben Bücher schnell unter die Rubrik »Beutekunst«. Zwei Länder, zwei Erinnerungskulturen, die das Trennende betonen. Man könnte aber – ich will es hier versuchen – die Geschichte dieser Bücher aus einer europäischen Perspektive neu erzählen.

Seit Kriegsende sind diese Bücher Gegenstand von diplomatischen, politischen und juristischen Querelen. Schon die DDR hat gegenüber der Volksrepublik Polen Restitutionsansprüche geltend gemacht. In Polen stießen sie stets auf Unverständnis und auch auf Empörung. Wollte das nationalsozialistische Deutschland nicht die polnische Kultur brutal vernichten? In seinem Aufsatz Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten von 1940 gab Heinrich Himmler unmissverständlich vor, die nationalen Kulturen im Osten in »kleine Splitter und Partikel« aufzulösen.

Dieses zerstörerische Programm wurde im Bibliothekswesen besonders konsequent umgesetzt. Entsprechend der Schätzung einer polnischen Forschergruppe aus dem Jahr 1990 wurden die Bestände der Warschauer Nationalbibliothek im Krieg um 78 Prozent dezimiert. Die Erinnerung an dieses Verbrechen ist in Polen lebendig: Ein Artikel vom 19. Januar 2020 auf der Webseite der Nationalbibliothek beschreibt die Taten der sogenannten Brennkommandos oder Vernichtungskommandos, die nach dem Warschauer Aufstand in Oktober 1944 die Schätze der Bibliotheken Polens absichtlich vernichteten.

Die Diskussion betrifft weniger die privaten Bibliotheken, deren Geschichte nach dem Krieg erst verschwiegen, später vergessen und verdrängt wurde. Es geht vielmehr um Bücher aus öffentlichen Sammlungen, insbesondere den in Polen unter der Bezeichnung »Berlinka« bekannten Bestand der Preußischen Staatsbibliothek und der Stadtbibliothek in Berlin (Stiftung Göritz-Lübeck) – beide Bibliotheken sind heute in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aufgegangen. Im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin (Stabikat) sind diese Bücher samt Signaturen allesamt mit dem Hinweis »Kriegsverlust. Keine Benutzung möglich« verzeichnet.

Die Bestände wurden zwischen 1941 und 1944 systematisch aus der Hauptstadt ausgelagert, um sie in ländlichen Gebieten vor Bombenangriffen zu schützen. Dort wurden sie in Schlössern, Salzgruben oder Klöstern eingelagert. In Pommern und Schlesien gab es elf solcher Auslagerungsorte, die sich nach dem Krieg auf polnischem Territorium befanden. Schon 1946 bemühte sich die Staatsbibliothek, die ausgelagerten Bestände zurückzubekommen, jedoch ohne Erfolg. Großzügige Geschenke sollten Entspannung in die festgefahrenen Verhandlungen bringen: 1950 überließ die DDR Polen eine Chopin-Partitur aus ihrer Deutschen Staatsbibliothek. Der polnische Staat wiederum übergab der DDR 1964 anlässlich ihres Staatsjubiläums 127 000 deutsche Bücher. Bei dieser Aktion vermied man in Polen sorgfältig den Terminus »Rückgabe«, vielmehr wurde von »Gabe« gesprochen. Nach der Wende erhielt Gerhard Schröder, der damalige deutsche Bundeskanzler, vom polnischen Ministerpräsidenten Jerzy Buzek eine Luther-Bibel aus dem Jahr 1522/23. Die Berliner Zeitung titelte am 30. Januar 2001: »Luther-Bibel nach Berlin heimgekehrt«.

Seit fünfundsiebzig Jahren ist die »Berlinka« Kristallisationspunkt zweier nationaler Erzählungen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten – wobei es auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie um Verlust- und Trauergeschichten geht. In Deutschland erinnern diese Bücher an die verlorene Heimat und an die Dezimierung von Sammlungen, die von alteingesessenen Familien über Generationen aufgebaut wurden. Man denke an die Bibliothek Schloss Plathe in Hinterpommern oder an die Bibliothek Yorck von Wartenburgs im schlesischen Klein Oels. Die Bücher stehen aber vor allem auf kollektiver Ebene für den Verlust wichtiger Quellen des deutschen Kulturerbes: unter anderem mittelalterliche Handschriften, Partituren von Bach, Mozart und Beethoven, Teile des Nachlasses Alexander von Humboldts, der Bibliothek Ludwig Tiecks, Handschriften von Heinrich Heine und vieles mehr.

2007 bezeichnete Tono Eitel, der damalige Sonderbotschafter für die »Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter«, diese Bücher als die »letzten deutschen Kriegsgefangenen«. Diese drastische Formulierung mag undiplomatisch gewesen sein, aber sie brachte die deutsche Emotion hinsichtlich dieser Bücher authentisch zum Ausdruck. Für den Vertreter Deutschlands ging es um Treue. Diese Loyalität trifft in Polen auf eine andere Emotion, die nicht weniger legitim ist. Die deutschen Bücher erinnern dort an den immensen Verlust von Kulturgütern während der deutschen Besatzung und können nur als kleine, völlig unverhältnismäßige »Kompensacja« für die absichtliche Zerstörung von polnischen Archiven und Bibliotheken gelten. Ihre bloße Existenz verdeutlicht, wie viel größer der Verlust von Kulturgütern ist, den die polnische Seite im Vergleich zur deutschen erlitten hat.