Versagen der Vorstellungskraft
Der Kampf gegen das iranische Regime von Ali AnsariDer Kampf gegen das iranische Regime
Als iranische Gerichte Mitte November vergangenen Jahres erstmals einen der Demonstranten zum Tode verurteilten, waren mutmaßlich bereits 326 Menschen bei der gewalttätigen Niederschlagung der Proteste getötet worden – ein weiterer Beleg für die Brutalität und den moralischen Bankrott der Islamischen Republik. Aber auch ein Indiz für die Ratlosigkeit eines Regimes, das zunehmend den Bezug zu den Wünschen seiner Bevölkerung verliert.
Der moderne Iran hat eine ganze Reihe von Revolutionen erlebt, soziale, ökonomische und politische. Er wird oft als so anfällig für Revolutionen wie politisch unbeweglich beschrieben. Das eine schließt das andere keineswegs vollkommen aus. Fehlende Veränderung kann zum Katalysator für revolutionäre Umtriebe werden, wenn der Druck auf einen reaktionären Staat wächst. Es ist aber auch wahr, dass lange Perioden der Erstarrung – das Klischee des »veränderungsunwilligen Ostens« verstärkend – zu politischer, aber auch analytischer Unbeweglichkeit führen: Regime werden selbstzufrieden, die Expertinnen beginnen sich zu langweilen. Genau in einer solchen Situation ist Argwohn angebracht.
Die Revolutionen von 1906 und 1979
Die beiden Revolutionen, die den Iran im 20. Jahrhundert umgewälzt haben, bieten dafür hervorragende, wenn auch sehr unterschiedliche Beispiele. Im Jahr 1906 hat die Konstitutionelle Revolution den Iran transformiert, in deren Zug, wie der Name schon sagt, eine Verfassung, die Begrenzung der Macht des Monarchen, ein Parlament, die Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung etabliert worden sind. Die britischen Beamten, die über die Ereignisse berichteten, waren verblüfft und nicht wenig erfreut über die Veränderungen, die dabei verankert wurden.
In seinem Bericht über das Jahr 1905 hatte sich der damals gerade scheidende British Minister to Persia wenig enthusiastisch über die im Dezember ausgebrochenen, eher moderaten Proteste geäußert. Er schrieb viel ausführlicher über die Beziehungen zu Russland, Kredite und darüber, wie man politische Veränderungen ermutigen könnte, auch wenn er in dieser Hinsicht kaum Hoffnungen hatte. Da sich im vorangegangenen Jahrzehnt nicht viel getan hatte, gab es für seine Einschätzung durchaus Gründe, aber sein Unvermögen, den kommenden Sturm zu erkennen, war von Vorurteilen geprägt und seiner Unfähigkeit, zu sehen, was vor seinen Augen geschah. Die diplomatische wie wirtschaftliche Präsenz Großbritanniens im Iran war beispiellos. Die Informationsquellen waren vielfältig, und doch war nicht ansatzweise zu ahnen, was nur Wochen, nachdem der Bericht nach London geschickt worden war, losbrechen würde. Man konnte nichts sehen, und man wollte nichts sehen.
Ähnlich verhält es sich mit der Revolution von 1979, von der die Geschichtsbücher heute behaupten, sie habe am 8. Januar 1978 »begonnen«, und zwar mit einem anonymen Artikel, der Ayatollah Khomeini, damals im irakischen Exil, attackierte. Diese Kränkung brachte eine Serie von Demonstrationen in Gang, die am Ende zur Auflösung und zum Zusammenbruch der Monarchie führten, auch wenn das zum damaligen Zeitpunkt nur wenige gleich begriffen. So war etwa der britische Botschafter Sir Anthony Parsons, von den Turbulenzen wenig beeindruckt, zu einem dreimonatigen Sommerurlaub aufgebrochen. (Man muss vielleicht daran erinnern, dass die Menschenmassen, die wir heute mit der Revolution von 1979 verbinden, erst ganz zum Schluss der Entwicklung auf die Straße gingen.)
Heute wird das Geschehen einerseits gerne als folgerichtig und unvermeidbar dargestellt, und andererseits wurde seitdem viel Tinte dazu vergossen, vor allem in den Vereinigten Staaten, wie wenig man hätte ahnen können und wie »Amerika den Iran verlor«. Betont wird das Versagen der Geheimdienste, der mangelnde Zugang zu Quellen (man war darauf bedacht, den Schah nicht zu verärgern). Insgesamt handelte es sich jedoch, wie Sir Anthony Parsons scharfsinnig bemerkt hat, »weniger um fehlende Informationen als um ein Versagen unserer Vorstellungskraft«.
Ironischerweise hatte man 1906 die potentielle Rolle des Klerus als Kraft des Wandels erkannt, während man die intellektuellen Voraussetzungen der Bewegung ignorierte.
1979 dagegen war eher das Gegenteil der Fall – man hatte zunächst die Gefahr gesehen, die von links drohte. Das alles soll nicht heißen, dass die Einschätzungen der Zeitgenossen keine Grundlagen gehabt hätten. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass wir erst im Rückblick erkennen, wie sehr auch legitime und durchdachte Einschätzungen der Lage fehlgehen können. Jede Analyse eines Prozesses, in dem man gerade steckt, hat mit der Unvollständigkeit von Informationen zu kämpfen, ein Problem, das sich durch im Lauf der Zeit entstandene Vorurteile nur noch verschärft. Man muss sich, um Sir Anthony Parsons zu paraphrasieren, mit dem klugen Einsatz von »Vorstellungskraft« zu behelfen versuchen.
Kampf gegen die letzte Revolution
Wir drohen auch diesmal, ähnliche Fehler zu machen. Es besteht das ernsthafte Risiko, die Kämpfe der Vergangenheit zu kämpfen, ohne die enormen Veränderungen der letzten dreiundvierzig Jahre hinreichend zu beachten. In gewisser Weise ist der »veränderungsunwillige Osten« mindestens so sehr ein Teil der westlichen Imagination wie eine realistische Reflexion der Entwicklungen vor Ort (der intellektuelle Schutt des »Orientalismus«, könnte man sagen). Von Vorurteilen behindert sind bei den aktuellen Protesten alle Seiten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Das Regime ist darauf bedacht, die Einzigartigkeit der Revolution von 1979, die Rolle von Klerus und Führer, zu betonen und argumentiert, dass sie ohne die Präsenz Ayatollah Khomeinis nicht geschehen wäre. Diese Sicht der Dinge haben sich westliche Beobachter oft unkritisch zu eigen gemacht, weshalb sie nun nach einer vergleichbaren Figur suchen.
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