Heft 859, Dezember 2020

Vom Pöbel zum Populismus

von Roman Widder

Wer ist das Volk? Die Münchner Satirezeitschrift Simplicissimus hat diese noch immer umstrittene Frage 1897 mit einer klugen Karikatur unter dem Titel Der – Die – Das beantwortet. »Das Volk« besteht darin ausschließlich aus den gebildeten Ständen, die zur Demonstration in Frack und Zylinder aufwarten. »Der Pöbel« hingegen wird als eine schmutzige, schreiende, mit Stöcken und Pistolen bewaffnete Personengruppe dargestellt. »Die Menge« schließlich vermittelt zwischen Volk und Pöbel nicht nur durch ihr grammatisches Geschlecht, sondern auch politisch. Sie ist das passive Pendant zum militanten Pöbel und bewundert die Parade der Armee. Es ist die soziale Seite des Volks-Begriffs, an welche die Karikatur damit indirekt appelliert: Dieses Volk in Frack und Zylindern, will sie sagen, ist nicht das eigentliche, zumindest nicht das ganze Volk. Wer das Volk sucht, findet es eher in den anderen Bildsegmenten: Es ist gespalten in eine Figur widerständiger Militanz (Pöbel) und die Neugierigen und Bewunderer (Menge). In allen drei Teilen spielt allerdings die Armee eine wichtige Rolle: Die von der Menge bewunderte Armee dient offenbar dazu, das Volk der Gebildeten und Gesättigten vor der militanten Entrüstung des Pöbels zu schützen. 

Abb. 1: Abbildung aus der Satirezeitschrift Simplicissimus von 1897

Während die Geschichte des Volks, seiner demokratischen Norm und seiner nationalistischen Beschlagnahmung, vielfach geschrieben wurde, fristet in seinem Schatten der Pöbel bis heute eine weitgehend unerforschte Existenz. Dabei gehört die Beschimpfung des Pöbels, das heißt die Beschimpfung verschiedener Akteure des politischen Lebens als »Pöbel«, in der medialen Auseinandersetzung bis heute zum alltäglichen Kampf um Deutungsmacht. Wer ist nun aber der Pöbel, von dem ja noch immer gesprochen wird, historisch betrachtet? Woher kommt und woran rührt diese Rede? Wer hat historisch wen wann und warum als Pöbel bezeichnet? Und was lässt sich davon über die Gegenwart lernen?

Der Pöbel als gemeiner Mann

»Vom Pöbel zum Proletariat« – unter dieser von Werner Conze geprägten Formel hat die Begriffs- und Sozialgeschichte das Phänomen lange Zeit traktiert und damit zugleich historisch eingehegt, und zwar in der Frühen Neuzeit. Conze ging davon aus, dass als Pöbel in der ständischen Gesellschaft die Arbeits- und Eigentumslosen bezeichnet wurden, außer- oder unterständische Bevölkerungsteile also, nicht die Bürger, sondern die Beisassen.1 Erst im 19. Jahrhundert, mit dem Wechsel von einer ständischen zu einer ökonomisch-klassenmäßigen Sozialstruktur und dem Aufkommen des selbstbewussten Proletariats, habe die Rede vom Pöbel jene abwertende Schattierung angenommen, die ihr noch heute anhaftet. Für Conze, der als Historiker der jungen Bundesrepublik im Kontext des Kalten Kriegs argumentiert, ist der Pöbel also etwas, das der Vergangenheit angehört, das Proletariat aber durchaus noch eine Sache der Gegenwart. Heute klingt die Rede vom Proletariat, selbst die von der Arbeiterklasse für viele antiquiert, vom Pöbel hingegen ist wieder die Rede. Lässt sich über die Figur des Pöbels also eine den engen Zeitraum der Industriegesellschaft überdauernde Geschichte der unteren Klassen und vor allem ihrer Abwertung schreiben?

Wer der Sache mit dem Pöbel auf den Grund gehen will, muss in der Tat in die Geschichte der Frühen Neuzeit eintauchen. Gerade im 16. und 17. Jahrhundert ist der Begriff allgegenwärtig und nimmt jene Konturen an, die noch seine heutige Verwendung prägen. Die Behauptung jedoch, der Pöbel sei jemals ein gewissermaßen feststehender und unparteiischer Begriff der ständischen Gesellschaft gewesen, muss bei Anschauung des Materials verwundern. Tatsächlich handelte es sich vielmehr um eine Missachtungsformel, die in Situationen des politischen Konflikts und der ökonomischen Konkurrenz eingesetzt wurde.

Im Spätmittelalter vom altfranzösischen »poblus« entlehnt, wurde das deutsche »pöbel«, »povel« oder »pöfel« schon während der Bauernkriege im 16. Jahrhundert äußerst polemisch eingesetzt. Martin Luther etwa schrieb gegen die Bauern: »Der esel will schleg haben || vnd der pöffel will mit gewalt geregiert seyn || das wüßte Gott wol || darumb gab er der oberkayt nicht ainen fuchsschwantz || sonder ein schwert in die hand.«2 Der Pöbel – das waren hier also die revoltierenden Bauern, unter denen sich allerdings ebenso städtische Handwerker fanden. Präziser lässt sich die Personengruppe mit dem in der Frühen Neuzeit gerne verwendeten Begriff des »gemeinen Manns« fassen, unter dem in der Regel der dritte Stand der Bürger und Bauern verstanden wurde. Während die Bezeichnung des gemeinen Mannes allerdings an Gemeinsinn appellierte und vom gemeinen Mann selbst genutzt wurde, um politische Ansprüche gegenüber Adel und Patriziern zu formulieren, bezeichnete der Pöbel stets eine dritte und abwesende Personengruppe. Bereits in der Frühen Neuzeit sprach niemand von sich selbst in der ersten Person als Pöbel – der Pöbel, das waren und sind vielmehr immer die anderen.

Auslöser der zahlreichen städtischen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts konnten die Einführung von Steuern auf Nahrungsmittel, Geldkrisen oder streikende Handwerksgesellen sein.3 Wie die Simplicissimus-Karikatur nahelegt, spielte dabei die Frage des öffentlichen Gewaltmonopols in der Tat eine alles entscheidende Rolle, nicht zuletzt im Kontext der entstehenden Souveränitätstheorie. Erst die militante Gegenwehr gegen die polizeiliche Macht der Obrigkeit machte den gemeinen Mann in den Augen der Fürsten und Gelehrten zum Pöbel. Mit der Missachtungsformel des Pöbels wurde an den Gehorsam der Untertanen appelliert, an ihre Bereitschaft, in den engen Begrenzungen ihres Stands gottgefällig das eigene Schicksal zu ertragen – ein Appell, der in Krisenzeiten von städtischer Polizei und fürstlichen Armeen unterstützt wurde. Die Militanz des gemeinen Manns wurde durch die militärische und diskursive Disziplinierung des Pöbels beantwortet.

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